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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 9 (1. Februarheft 1905)
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Nissen, Benedikt Momme: Die mittlere Linie, [1]: zur heutigen deutschen Kunstlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0661

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Künstler, ob modern oder nicht, muß an dieser Meta vorbei. Und
mancher Voreilige wird, im Wagenrennen, an ihr zerschellen.

Es ist ein Wahn, wenn feinnervige Kenner aus den dreifach destil-
lierten technischen Nuancen und Espritäußerungen gewisser Feinmaler:
Whistler, Degas u. a. auf die Wirklichkeit oder Möglichkeit einer ganz
neuen Welt- wie Kunstanschauung schließen. Solche spezifische Noten und
Finessen bieten allerdings, für kunstmüde Gaumen, die ausgesuchtesten
Reize. Jm Grunde aber sind es bloße Jrisierungen an der Oberfläche
— einer Dekadenzkultur, gegenüber den vollgeistigen Schöpfungen von
Vollmenschen — einer Blütekultur, wie es die von Rasfael und Mi-
chelangelo war. Neuigkeitsreize gegenüber Ewigkeitswerten! Jene
Halbgeister sind feminin. Sie verfehlen bei all ihrem Eifer, ihrer Fein-
heit, ihrer Fähigkeit das eigentliche Zentrum der Kunst. Dieses heißt:
Gestaltung von innen heraus, schöpferischer Wurf! Fast alle Pariser Mo-
dernen von Manet bis van Gogh erstreben die Wiedergabe des Ein-
drucks, den die Natur auf Sinne und Nerven, d. h. aus bloße
Tastorgane des Menfchen macht. Sie erreichen dies Ziel oft; aber
was ist gewonnen, wenn dabei Herz und Seele erkalten? Die künst-
lichste Kombination von Tonschwingungen wird nie zum Nachtigall-
gesang. „Jch habe vor nichts so viel Angst als vor der Wissenschaft
in der Kunst", sagte Böcklin.

Echte Kunst erwächst aus tiefen gewaltigen Seelenakkorden, nicht
aus der Summierung von zehntausend Nervensensationen.

Nuancierung, Differenzierung dars in der Malerei nur Mittel,
nicht Zweck sein. Die Falschmoderne dreht törichterweise dies Verhältnis
um. Von der Säulenmusik des Parthenon bis zu den graziösen Figuren
Watteaus ist die klassische Kunst reich an abgewogensten Feinheiten. Doch
dort stellen diese das letzte Ausklingen einer in sich festgefügten, klar
gegliederten künstlerischen Wirkung dar. Wo dagegen das seste innere
Gerippe des Kunstwerkes mangelt, da artet die künstlerische Nuancie-
rung leicht aus in leeres, krankhaftes Spiel. Nuancen aus Fülle,
Nuancen aus Mangel — Das ist klar zu scheiden. Photographiert
man die Altmeister, so erhält man trotz des Farbenverlustes schöne
Form und schöne Seele; photographiert man moderne Pseudomeister,
so Lekommt man nur allzu ost einen Haufen von Formen- und
Seelenkehricht. Einstimmig haben die kunstgeschultesten Deutschen, von
Schwind bis Justi, jenes entgleisende Nuancierungsverfahren verurteilt.
Dem impressionistischen Maler mangelt die „pupillarische Sicherheit"
des seelischen Fühlens, des geistigen Aufbauens; ohne diese aber ist
ein ausgeprägt deutsches Kunstwerk, und sei es nur eine Bleistiftstudie,
nicht herzustellen.

Die Technik, im Bunde mit der Abgeschmacktheit, ist
die fürchterlichste Feindin der Kunst. (Goethe)

Es gibt viel Calibangeist in der neueren Kunst. Der verderbliche
Einfluß der dort auftretenden falschen Theorieen wird noch unter-
schätzt. „Scheußlich, ich mag keine Rosen!", rief kürzlich ein sehr her-
vorragender deutscher Verfechter jener aus, als er vor einem herrlichst
blühenden Rosenbeet stand. So spricht der bomo l^mpkmtieus, dessen
Nervensystem von der gesunden Norm des Empfindens völlig abgeirrt

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