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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 9 (1. Februarheft 1905)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0710

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uns widerstrebende herrschende Kunst-
richtung überwinden und zu Eignem
kommen wollen. Es gibt im neun-
zehnten Jahrhundert kraftvolle An-
sätze zu einer eigentümlich deutschen
und großen deutschen modernen Kunst
in der Künstlergruppe der Böcklin,
Feuerbach, Marses; in der Fort-
entwicklung dieser Leistungen liegt
unsere wirksame Gegenkraft gegen
den mächtigen Andrang pariserischen
Kunstgeistes. Wie Goethes und Bis-
marcks Schaffen, so ist auch das
Böcklins bestimmt, nach seinem Tode
zeugend fortzuwirken. Es ist aber
an dem Beispiele Schicks erneut zu
erkennen, daß die wohlangewandte
Lehre eines Meisters auch ein be-
scheidenes Talent festigt, während
wir seit Jahrzehnten beobachten, wie
hochbegabte junge Leute nach weni-
gen Arbeiten, die als Versprechen
künftiger Leistungen annehmbar wa-
ren, erstarren oder gar zusammen-
brechen. Der „Originalgenies" gibt
es ja gar wenige, aber der tüchtigen
Künstler gibt es gar viele, oder kann
es wenigstens viele geben, wenn sie
lernen wollen, sich als dienendes
Glied an das Ganze anzuschließen,
wenn sie einen Teil der Kraft, die
sie auf fruchtlose Bemühungen ver-
wenden, mehr zu scheineu, als sie
sind, darauf richten, die Stelle zu
finden, wo sie sich anzugliedern
haben, den Boden, aus dem sie
Kraft ziehen können. „Wenn du erst
wirklich", sagt einmal Ruskin, „weißt,
wer die großen Meister sind, wirst
du finden, daß der Lehrer ihr halbes
Leben ausmacht." Bei den kleinen
Meistern aber macht es geradezu alles
aus, ob sie die Jntelligenz, den
Ernst und den Mut haben, den
rechten Meister zu bekennen, oder
ob sie ein unerfreuliches und un-
fruchtbares Scheindasein zu führen
vorziehen. Das eine bedeutet für
sie Leben, das andere Tod.

Albert Dresdner

W> „M u ß man alles schön
finden, was berühmt ist?"

So fragt Friedrich Naumann in
seiner „Hilfe", in der er sich oft
und höchst anregend mit einzelnen
Kunstwerken beschäftigt, und er fährt
dann fort: „Wir faßen vor den
»Meisterbildern«, die der Kunstwart
herausgibt, und eben kam Nummer
Dreißig an die Reihe, die »Aufer-
stehung des Fleisches« von Luca
Signorelli. Da klang es laut: o
wie gräßlich! Die Antwort aber
lautete: gräßliche Bilder gibt der
Kunstwart nicht heraus! Wer hat
nun recht? Jm Grunde wohl beide,
nur vertreten sie ganz verschiedene
Gesichtspunkte. Der Kunstwart weiß
zweifellos, warum er dieses Bild
gewählt hat, und sagt ja auch im
begleitenden Texte sehr genau, was
er an diesem Gemälde findet. Es
ist ein großes Erlebnis in der italie-
nischen Kunst des f5. Jahrhunderts,
daß die menschlichen Körper frei und
bewegt dargestellt werden können.
Von diesem Bilde aus öffnet sich
der Weg bis zu Michelangelo. Kunst-
geschichtlich hat es einen ganz be-
stimmten Wert, der außer aller
Debatte ist. Die Frage ist nur, ob
der einzelne Beschauer von heute
sich zwingen soll, alles das schön
zu finden, was irgendwann das
Neueste, Beste und Größte gewesen
ist. Hat er das Recht, dieses Bild
als häßlich zu bezeichnen? Ja, er
hat das Recht, nur muß er sich
gleichzeitig dann sagen lassen, daß
er für Kunstgeschichte verdorben ist.
Wem das nichts ausmacht, wer gar
uicht alle Zeiten genießen und ver-
stehen will, der hat das volle Recht,
nicht nur einzelne Bilder, sondern
ganze Kunstrichtungen von vornher-
ein von sich abzulehnen, ja, es ist
weit besser, wenn er sich und an-
dern offen sagt, was er von sich
abweist, als wenn er Kunstgenuß
heuchelt, wo keiner da ist. Unter

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