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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 10 (2. Februarheft 1905)
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Wolfrum, Philipp: Ueber Bearbeitung Bachischer Werke
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0744

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seltsamen Folgerungen, z. B. daß der Schlußchor der Kaffeekantate:
„Die Katze läßt das Mausen nicht, die Jungfern bleiben Kaffee-
schwestern" unter Orgelbegleitung vonstatten gehen müßte. Höre ich
andrerseits z. B. Arien der 8-moI1-Messe in Aufführungen großen
Stiles mit dem Flügel begleiten, dessen Ton sich eben nicht erwünschter-
weise verschmilzt mit dem Ton der Orchesterinstrumente, wie es bei
der Orgel der Fall, so kann ich mich des grauenhasten Gedankens nicht
erwehren, wie es wohl klingen würde, wenn man den Lohengrin mit
Generalbaß am Flügel traktierte!

Philipp Spitta verdankt gewiß jeder Musiker eine Fülle
von Anregungen, ja Anleitungen hinsichtlich der Erkenntnis der Kunst
des Meisters. Hat er sich auch der neuesten Entwicklung unsrer Kunst
gegenüber ablehnend verhalten, er konnte doch der Kunst der Meister
seiner „guten alten Zeit" und seiner Gemütswelt auch hinsichtlich der
Uebertragung Bachscher Kunst auf das moderne Orchester in groß-
zügiger Weise gerecht werden. Er lobt z. B. Essers Jnstrumentierung
des Orgel-Passacaglios, durch dessen häufige Reproduktion in den
Konzertsälen in der Tat — wer wollte das leugnen? — mancher Musik-
hörer erst für Bach gewonnen wurde, der vor jeder Orgelproduktion
des Werkes davongelaufen ist. Wenn man sich heute allgemein das
grandiose Stück auch auf der Orgel vorgetragen mit Genuß anhört,
so ist das hauptsächlich mit die Wirkung jener Esserschen Jnterpretation,
und dazu kommt, daß wir heute Orgeln haben, die in Hinsicht aus
Farbe und Farbenmischung, in der Möglichkeit des plastischen Vortrags
der alten Orgel weit überlegen sind. Was schließlich die orchestralen
Ergänzungen anlangt, so werden wir das Recht dazu im Zeitalter Wag-
ners, dessen Meistersinger uns erst den rechten Sinn für die alte Poly-
phonie aufschlossen, nicht erst erkämpfen müssen. Der Grenzen, die für
solche Neubearbeitungen durch das Werk selbst gesteckt sind, wird sich
gerade der Praktiker am besten bewußt, der die Feinheiten auch der
alten Jnstrumentierung herausfühlt. Neben der Feinheit gab es aber
damals Unvollkommenheit genug. Wie wenig Bach mit seinem musi-
kalischen Apparat zufrieden war, erhellt aus jenem trostlosen Memo-
randum, das er 1723 an den Rat der Stadt Leipzig richtete, wo er
sagt, daß der jetzige Ltatus mu8ie68 ganz anders wie ehedem beschaffen,
daß die Kunst um sehr viel gestiegen, der §u8to sich verwunderungs-
würdig geändert, daß also auch die ehemalige Art von Mu-
sik unseren Ohren nicht mehr klingen will, daß er um
so mehr einer erklecklichen (materiellen) Beihilfe benötigt sei, damit
er solche „Subjecta" auswählen und bestellen könne zur Kirchenmusik,
die den „jetzigen musikalischen §u8tum assequiren, die neuen Arthen der
Music bestreiten, mithin im Stande seyn können, dem Oompomtori
und dessen Arbeit 8ati8kaetiou zu geben".

Wenn erst einmal der Bachsche Satz, „daß die ehemalige Art von
Musik unseren Ohren nicht mehr klingen will", anerkannt ist von den
Musikhistorikern, wenn sie, statt vom Katheder herab und in wissen-
schaftlich einseitigen musikalischen Versammlungen* sich als die allein

* Vergleiche das Bachzahrbuch der Neuen Bachgesellschaft, Leipzig, Breit-
kopf, 190H- (Wir werden auf dieses Buch zurückkommen. Rw-L)

2. Februarheft 1905 687
 
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