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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 10 (2. Februarheft 1905)
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Unsere Bilder und Noten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0768

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Frage das richtige Verständnis zu erwecken, versuchen wir heute, den Leser
über die Vorsragen zu unterrichten.

Jm s7. und s8. Jahrhundert diente die Musik durchaus dem Ver-
brauch; auch die Oper, das selbständigste Kunstwerk, wurde als Ware kon-
sumiert. Das hatte in mancher Beziehung sein Gutes im Gefolge; aber das
Schlimme blieb auch nicht aus. Die alte Musik jener Zeit ist uns* im
besten Fall erhalten als Entwurf mit Andeutungen, wie einzelne Partieen
ausgeführt werden sollen. Nie trug man Sorge, alles schriftlich festzu-
halten, was zur Ausführung des Kunstwerkes nötig war. Die Hast des
Hervorbringens ünd Darstellens verbot nicht bloß die genaue Bezeichnung
der Dynamik und Phrasierung, sondern auch der Töne, der Zusammenklänge
überhaupt. Einzelne Partieen wurden ausgeschrieben, am vollständigsten
die der Sänger; alles weitere überließ der Komponist, der wohl meist
auch die Aussührung leitete, einer nach unsern Begrifsen so gut wie gar
nicht vorbereiteten Wiedergabe. Da mußte ein Tasteninstrument, dem die
Töne in Fülle zu Gebot standen, war es nun Orgel oder Klavier, herhalten,
um die Andeutungen des nur skizzierten Kunstwerkes auszuführen, die
Lücken weniger schrofs erscheinen zu lassen, ja die Unebenheiten, die ver-
paßten Einsätze der Musizierenden zu verdecken. Es mag oft toll und auch
lustig zugegangen sein, wenn der Begleiter und Leiter nicht als Komponist
das Stück selbst im Kopf hatte, sondern nur nach der Baßstimme ergänzte,
was an Harmonieen eben ergänzt werden kann. Von der Art der Auszeich-
nung bieten wir nun zwei Beispiele aus der Z. Kantate Bachs. Zuerst (s)
die elf einleitenden Jnstrumentalakte, die wir so ausgeschrieben haben, daß
die Lücke zwischen Baßstimme („Continuo") und Viola recht deutlich nicht
bloß hörbar, sondern auch sichtbar wird. Der Continuo hieß auch General-
baß, und der Generalbaßspieler hatte nun die Aufgabe, den Zusammenklang
erträglich und so weit es anging, schön, satt, reizvoll zu gestalten. Wie
wichtig einem Bach hier seine Konzeption war, beweisen die sorgfältig
ausgeschriebenen fünf oberen Stimmen. Die Oboe äümors, erst zu Bachs
Zeit erfunden, war vor (7(5 nicht im Gebrauch; sie klang viel gedämpster
als die gewöhnliche Oboe. Es wäre kein Verbrechen, sie durch Englisch
Horn oder Klarinette zu ersetzen, wo man die alten Jnstrumente nicht zur
Versügung hat. Neben dem wunderbaren, die Chromatik ausnützenden Oboen-
Duett stehen noch Violinstimmen; die erste hat Seufzermotive von echtestem,
ergreisendftem Ausdruck. An zwei Klavieren könnte unser Partiturbild Leben
gewinnen. Man würde zugleich auch hören, was ihm an Leben etwa noch
sehlt. (Wir bitten auch, den Klavierauszug bei Peters oder Breitkopf zu
vergleichen.)

Dem ersten Chor und einem Hstimmigen Rezitativ folgt nun die Baß-
Arie: „Empfind' ich Höllenangst und Pein." Kretzschmar findet, daß die
Stimmung geradezu ans Quälerische streife. Dies ist kein Lob. Aber auch
kein Tadel; denn es besagt nur, daß der Kritisierende von Höllenangst
nichl gequält sein will. Bach aber wurde von ihr gequült. Der Affekt der
Angst (dem übrigens der starke Gegensatz nicht sehlt — fiehe die Freuden-
koloratur!) ist selten in der Musik so wahr und kühn ausgedrückt worden wie
hier. Doch nun sehe man zuerst die zwei Systeme an, deren Bild wir
genau nach dem (. Band der großen Bachausgabe hersetzen (2). Die Zissern
des Generalbasses sind (wohl aus mangelnder geschichtlicher Erkeuntnis des
Herausgebers) weggelassen. Was fangen wir nun mit der Arie an? So

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