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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 2 (Novemberheft 1931)
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Le Fort, Gertrud von: Die Letzte am Schafott, [2]: Novelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0146

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wie damals! Sie wissen, daß ich m'chk von großer Statur bin: ich stand
buchstäblich bis zur Scheikelhöhe im Chaos, mein Gesicht schon gleichsam
in ihm versunken: ich konnte LaLsächlich nichL sehen, was vorging, ich konnLe
nur noch hören. Verstehen Sie, meine Freundin, daß alle Wahrnehmungs-
krast, die in mir war, in diesen einen Sinn slüchtend, sast zur übersinw
lichen Wahrnehmung werden mußte?

Die KarmeliLerinnen kamen, wie Marie de l'IncarnaLion erwarLeL haLLe,
singend auf der Place de la RevoluLion an: man vernahm ihr Psalmodieren
schon von weiLem; es seHLe sich merkwürdig klar durch das Geschrei des
Pöbels durch — oder verstummLen die Ansbrüche der grausamen Massen
beim Anblick ihrer Opser? Jch unkerschied ganz deuLlich die leHLen WorLe
des ,,8alv6 Hsgina" (Sie wissen, dies singL man, wenn eine Klostersrau
im Sterben liegL), und gleich daraus die ersten des „Veni erostor". Es war
eLwas LichLes und Liebliches in dem Gesang, eLwas Zartes, aber zugleich
sehr Festes und Ruhiges — nie häLLe ich geglaubL, daß er den Lippen zum
Tode VerurLeilker enLströmen könne! Ich war zuvor sehr erregL gewesen;
bei diesem Gesang wurde ich merkwürdig rnhig. „Eroator 8piriin8, oroator
8piritn8 —" ich glaubLe immer wieder diese zwei WorLe zu hören; es war,
als gingen sie gleichsam in mir vor Rnker.

Indessen strömte der Gesang klar und voll weiLer. Die Karren suhren,
nach ihm zu urLeilen — ich sah ja nichts — sehr langsam, wahrscheinlich
stauLe sich die Menge vor ihnen; ich haLLe das Gesühl, daß sie noch lange
nichL angekommen seien. 2lber dieser Gesang hob das ZeiLgesühl vollkommen
aus — er hob auch den Raum aus ^— er hob die große, bluLige Place de la
RcvoluLion aus, er hob die Guillotine aus, er hob — oreator 8piritn8, orea-
tor 8piritn8 — die Vorstellung des Chaos ans: ich haLLe plöHlich wieder das
Gesühl: ich war unter Menschen! Indem schien mir, als sage jemand dichL
an meinem Ohr: ,Frankreich LrinkL nichL nur das BluL seiner Kinder, es
vergießL auch sein BluL sür sie, sein edelstes, sein reinstes BlutL Ich schreckte
empor: es war jeHL LoLenstill aus der Place de la RevolnLion. (Meine
Liebe, selbst bei der Hinrichtung des Königs ist es nichL so still gewesen!)
Selbst der Gesang erschien jehL leiser; die Karren haLLen sich ofsenbar enL-
sernL, vielleicht schon ihr Ziel erreicht. Nckein Herz begann zu pochen;
indem kam mir znm BewußLsein, daß eine sehr helle Stimme im
Chor sehlLe — gleich daraus sehlte noch eine —: ich haLte geglaubt, die Hin-
richtung habe noch gar nichL begonnen, in WirklichkeiL war sie sast vor-
über.

Der Gesang wurde jetzt nur noch von zwei Stimmen getragen: einen Augen-
blick lang schwebten sie wie ein leuchtender Negenbogen über der Place de la
NevoluLion, dann erlosch gleichsam die eine SeiLe; die andere strahlte noch
sort. 2lber schon sing den erblaßten Glanz der ersten wiederum eine zweite
aus — es war eine ganz kleine, seine, kindliche Stimme: ich haLLe die Vor-
stellung, als komme sie gar nicht von der Höhe des SchasoLLs herab, sondern
klinge irgendwo aus der Tiese der Menge emgor, gleichsam als respondiere
diese selbst. —

Jm gleichen Augenblick ging eine stürmische Bewegung durch die dichtge-
drängLen Neihen — vor mir entstand (genau wie in jener SepLembernachL)
 
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