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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 3 (Dezemberheft 1931)
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Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0254

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l'n lhrer Güte erkannt zu roerden brancht,
>n der Praxis als falsch. Je höher die
Einsicht steigt, und sie muß irnmer höher
steigen, um so mehr entschwindet sie, um
so mehr bleibt sie bei sich und überläßt
die Welt sich selber; um so mehr hört
sie sogar auf, Einsicht zu sein, nämlich
Einsicht in das Wirkliche.

Sind wir nicht heute mit unserer Einsicht
an diesem Punkte angelangt? Die Ein-
sicht weiß freilich selber um diese Not und
sucht konkreter zu werden. Aber sie ver-
sucht es auf i'hrem eigenen Wege, d. h.
sie sucht die Konkretion auf dem Wege
der Differenzierung und Spezialisierung.
Konkretion ist aber nicht eine Frage der
Annäherung, sondern der Anteilnahme.
Sie wird nicht damit erreicht, daß man
den Dingen näher und immer näher
kommt bis zu einer asymptotifchen Nähe,
die immer noch Ferne ist, sondern daß
man in sie hineingeht. Einsicht kann auf
ihrem Wege zur Einheit nur zum Ziele
kommen, indem sie die Inhalte forma-
lisiert. Konkretion heißt aber Jnhaltlich-
keit. Einsicht strebt ins blnendliche, denn
nur in dieser Ferne ist Einheit, und im
Raume stoßen sich die Sachen. Aber Kon-
kretion heißt Endlichkeit, Begrenztheit,
Bestimmtheit. Einsicht ist neutral, weder
auf der einen, noch auf der andern Seite,
Konkretion heißt, verwurzelt sein.

*

Aber die Antithese ohne Mitte ist nicht
besser als die Einheit ohne Entscheidung.
Es ist begreiflich, daß eine Zeit, die öes
Denkens mude ist, weil sie mit ihrerEin-
sicht gefcheitert ist, die auf einmal ent-
deckt, daß sie den Boden unter den Füßen
verloren hat und daß die Dinge indessen
nicht, wie man erwartet hatte, der Der-
nunft folgten, daß eine solche Zeit mit
ihren Sympathien bei den Flügelparteien
der klaren Entfcheidung ist und von ihnen
alles Heil erwartet.

Die Jugend ist antiliberal, aber sie ist eS
auf so verfchiedene Weise, daß ihr Anti-
liberalismus das einzige ist, was sie ver-
bindet. Sie ist bereit, jedem Führer zu
folgen, nur nicht der Einsicht. Sie ist
entfchieden, aber ihre Entfcheidung ist ihr
zu leicht geworden, denn sie kommt nur
auS dem Affekt. Sie ist politisiert, doch
ohne zu wissen, was Politik ist. Sie krem-
pelt die Ärmel hoch und geht gegen den
Nächstbesten los. Sie fchreit und weiß
nicht, was ihr Schrei bedeutet. Sie ist

fanatisiert, aber sie hat keine Ziele. Die
Dinge sind ihr einfach, nicht weil sie
sich für das Eine entfchieden hat, sondern
weil sie sie nur aus Schlagworten kennt.
Sie ist antiliberal, ohne vor der Entfchei-
dung gestanden zu haben. Dieser Anti-
liberalismus kann nicht weit tragen, denn
er hat den Liberalismus nicht hinter sich,
sondern noch vor sich. Er steht noch vor
der Einsicht.

Auch der RadikalismuS kommt nicht zur
Politik, denn auch er bleibt unbeteiligt
an den Dingen. Läßt sich die liberale
Einsicht in ihrem OptimiSmus unbe-
fchwert über die Dinge hinwegtragen, so
bleibt der RadikalismuS mit dem Einsatz
seiner direkten Aktion am Nächsten hän-
gen. Es kommt nicht bloß auf die Ent-
fcheidung überhaupt an, sondern auf die
richtige Entfcheidung. Bloße Emotiona-
lität bleibt ebenso freifchwebend wie bloße
Einsicht. Die richtige Entscheidung ist die
von den Dingen geforderte Entfcheidung,
aber ihre Forderung muß gehört werden,
und sie wird nur gehört in der Verbun-
denheit. Daher ist Einsicht doch nicht zu
entbehren, Einsicht in die Verflechtung,
in den Zusammenhang, in die Ordnung
der Dinge. Wenn die Dinge für sich
wären, dann könnte der Änderungswille
direkt einsetzen. Dann wäre die direkte
Aktion der Radikalen möglich. Die Er-
fahrung lehrt aber immer wieder, daß die
direkte Aktion fcheitert. Alle direkten
Preissenkungsaktionen sind ergebnislos
geblieben. Auch in der Politik gibt es
nur den indirekten Weg, den Weg über
die Einsicht. Wenn man die Dinge än°
dern will, muß man ihre Bedingungen
ändern; man muß die Hindernisse, die
dem erstrebten Ziel im Weg stehen, be-
seitigen. Hermann Herrigel

Notiz

Von dem Dichter unserer Weihnachtsge-
fchichten, dem Jugendfreunde Felix Tim-
mermans', Antoon Thiry, ist soeben ein
Buch unter dem Titel „Das fchöne Iahr
des Carolus" im Transmare-Verlag er-
fchienen. Das fchöne, grüne — uns vom
„Pallieter" her vertraute — Flachland
um den Nethefluß, die biedermeierifche
Landstadt und die parkumhegtenGutshöfe,
das ist der Raum, in dem Herr Carolus,
ein rechter Hauptkerl nach dem Herzen
Timmermans', sein entfcheidendes Lebens-
jahr durchstürmt. In ihm, in seinen tol-
len Streichen, in seinen Nöten und Irv-

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