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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 6 (Märzheft 1932)
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Johann Wolfgang Goethe: Bedeutung des Individuellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0414

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fallen; aber auch dreses gereicht ihr keineswegs zur Ehre. Die Vorwerber
sind abgekreten, den Mikwerbern ist es nicht besser gegangen, und sie haben
vielleicht doch auch ihre Zwecke erreicht und sind beruhigt; die Nachwerber
sind nun an ihrer Reihe, der Lehre, des Rats, der Hilfe bedürftig, und so
fchließt sich der Kreis, oder vielmehr so dreht sich das Rad abermals, um
seine immer erneuerte, wunderliche Linie zu befchreiben.

Man sieht hieraus, daß es ganz allein von dem Geschichtschreiber abhänge,
wie er einen Mann einordnen, wann er seiner gedenken will. So viel ist
aber gewiß, wenn man bei biographischen Betrachtungen, bei Bearbeitung
einzelner Lebensgeschichten ein solches Schema vor Llugen hat und die un-
endlichen Llbweichungen von demselben zu bemerken weiß, so wird man, wie
an einem guten Leitfaden, sich durch die labyrinthischen Schicksale manches
Menschenlebens hindurchfinden....

Arisieia der Nkutter

Wie bedeutend das Leben eines Menschen sei, kann ein jeder nur an ihm
selbs! empfinden, und zwar in dem Augenblick, wenn er auf sich selbst zurück-
gewieseu das Vergangene zu betrachten und das Künftige zu ahnen genötigt
ist. Alle spätere Versuche, solche Zustände darzustellen, bringen jedoch jenes
Gefühl nicht wieder zurück. Deshalb sind Briefe so viel wert, weil sie das
Unmittelbare des Daseins aufbewahren, und der Roman in Briefen war eine
glückliche Erfindung.

Ganz vergebens wär es daher, obgleich hier am Ort, wenn ich von den Eigen-
schaften und den Eigenheiten meiner Mutter sprechen wollte, und doch ist es
merkwürdig, wie in ihr das allgemeine Muttergesühl gegen einen Sohn,
gegen ihren Erstgebornen sich in eigentümlicher Weise hervortat und zu wel-
cher Gestalt ein solcher Charakter gerade in der Hälste des vorigen Iahr-
hunderts sich ansbildete. Iedoch ist mir ein Mittel zur Hand, welches,
wenn ich es zu ergreifen wage, nicht allgemein gebilligt werden dürfte.

Man hat getadelt und vielleicht mit Necht, daß die sogenanuten Bekennt-
nisse einer schönen Seele den Hergang der Abenteuer Wilhelm Meisters
unterbrechen, uud doch mag man sie nachher nicht gerne vermissen. Schließen
sie sich m'cht unmittelbar an, bringen sie einen fremden Ton in die Skimmung,
so wird man doch wieder versöhnt, weil durch diese Iluregelmäßigkeit immer
etwas gewonnen ward.

Und so stell ich auch hier wunderbare Anszüge aus eiuer Hauschronik zu-
sammen, wie sie von einer jungen Familienfreundin aufgefaßt, im lieben-
den Herzeu verwahrt und endlich in Schrifken niedergelegt wurden.

Der Großvater mütterlicherseits war ein Träumender uud Traumdeuter; es
ward ihm vieles über seine Familie durch Träume offenbar. Er sagke eiu-
mal einen großen Brand, dann die unvermutete Ankunft des Kaisers voraus.
Daß er Stadtsyndikus werde, hat ihm ein ganzes Jahr vorher geträumk.
Es wurde aber nichk beachtet, er selbst hatte es wieder vergessen, bis der Tag
der Wahl herankam; nur die älteste Tochter hatte stillschweigend einen festen
Glauben daran. An demselben Tage nun, da der Bater aufs Nathaus ge-
gangen war, sieckte sie sich in den möglichsten Putz und frisierte sich anfs
beste. In dieser Pracht setzte sie sich mit einem Buch in der Hand in einen

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