Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1932)
DOI Artikel:
Johann Wolfgang Goethe: Bedeutung des Individuellen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0413

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
doch können wrr uns nicht losreißen, eine Macht hätt uns fest, dre nns nnbe-
greiflrch scheint. Manchmal jedoch kommen wir zum völligen Bewußtsein
und begreifen, daß ein Irrkum so guL als ein Wahres zur TätigkeiL bewegen
und antreiben kann. Weil nun die TaL überall enkfcheidend ift, so kann aus
einem LäLigen Irrtum etwas Treffliches entftehen, weil die Wirkung jedes
Getanen ins Unendliche reicht. So iß das Hervorbringen freilich immer das
Befte, aber auch das Zerftören ist nicht ohne glückliche Folge.

Der wunderbarste Irrtum aber ift derjenige, der sich auf uns selbft und unsere
KräfLe bezieht, daß wir uns einem würdigen GefchäfL, einem ehrsamen UnLer-
nehmen widmen, dem wir nicht gewachsen sind, daß wir nach einem Ziel
streben, das wir nie erreichen können. Die darans entspringende TanLalifch-
Sisyphifche Qual empfindet jeder nur um defto biLLerer, je redlicher er es
meinte. Ilnd doch sehr oft, wenn wir uns von dem BeabsichLigLen für ewig
gekrennt sehen, haben wir fchon auf unserm Wege irgendein anderes Wün-
fchenswerke gefunden, etwas uns Gemäßes, mit dem uns zu begnügen wir
eigentlich geboren sind.

Allgemeine Betrachtuugen

Das Leben jedes bedeutenden Menfchen, das nicht durch einen frühen
Tod abgebrochen wird, läßt sich in drei Epochen Leilen, in die der erften
Bildung, in die des eigentümlichen Strebens und in die des Gelangens zum
Ziele, zur Vollendung.

Meiftens kann man nur von der erften sagen, daß die Zeit Ehre von ihr
habe: denn erftlich deutet der Wert eines Menfchen auf die Nutur und KrafL
der in seiner Geburtsepoche Zeugenden; das Gefchlecht, aus dem er ftammt,
manifeftiert sich in ihm öfters mehr als durch sich selbft, und das Iahr der
GeburL eines jeden enthält in diesem Sinne eigentlich das wahre I^ativi-
Lätsprognostikon mehr in dem Zusammentresten irdifcher Dinge als im
Aufeinanderwirken himmlifcher Geftirne.

Sodann wird das Kind gewöhnlich mit Freundlichkeit aufgenommen, ge-
pflegt, und jedermann erfreut sich dessen, was es versprichL. Ieder Bater,
jeder Lehrer sucht die Llnlagen uach seinen Einsichten und Fähigkeiten beftens
zu entwickeln, und wenigftens ift es der gute Wille, der alle die Umgebungen
des Knaben belebt. Sein Fleiß wird gepriesen, seine Fortfchritte werden
belohnt, der größte Eifer wird in ihm erregt und ihm zugleich die Lörige
Hostnung vorgespiegelt, daß das immer ftufenweise so fortgehen wcrde.
Allein er wird den Irrtum nur allzubald gewahr: denu sobald die Welt
deu einzelnen Strebenden erblickt, so bald erfchallt ein allgemeiner Aufruf,
sich ihm zu widersehen. Alle Vor- und Mitwerber sind höchlich bemüht,
ihn mit Schranken und Grenzen zu umbauen, ihn auf jede Weise zu retar-
dieren, ihn ungeduldig, verdrießlich zu machen und ihn nicht allein von außen,
sondern auch von mnen zum Stocken zu bringeu.

Diese Epoche ift also gewöhnlich die des Konflikts, und man kann niemals sagen,
daß diese Zeit Ehre von einemManne habe. Die Ehre gehört ihm selbft an,
und zwar ihm allein und den wenigen, die ihn begünftigen und mit ihm halten.
Sind nun diese Widerftände überwunden, ift dieses Streben gelungen, das
Angefangene vollbracht, so läßt sichs denn die Welt zuleht wohl auch ge-

358
 
Annotationen