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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 6 (Märzheft 1932)
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Johann Wolfgang Goethe: Bedeutung des Individuellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0438

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ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden l§inheil vorfindet; wenn er
in den Gesinnungen seiner LandsleuLe Größe, in ihren Empfindungen Tiefe
und in ihren Handlungen Stärke nnd Konsequenz nichk vermißk; wenn er
selbfl, vom Nationalgeifle durchdrungcn, durch ein einwohnendes Genie sich
fähig fühlt, mit dem Vergangnen wie mit dem Gegenwärtigcn zu sympathi-
sieren; wenn er seine Nütion auf einem hohen Grade der Kultur findet, so
daß ihm seine eigene Bildung leicht wird; wenn er viele Materialien ge-
sammelt, vollkommene oder unvollkommene Versuche seiner Vorgänger vor
sich sieht und so viel äußere und innere Ilmftände zusammentreffen, daß er
kein fchweres Lehrgeld zn zahlen braucht, daß er in den beften Fahren seineS
Lebens ein großes Werk zu übersehen, zu ordnen und in einem Sinne aus-
zuführen fähig ift.

Man halte diese Bedingungen, unter denen allein ein klassifcher SchrifH-
fteller, besonders ein prosaifcher, möglich wird, gegen die llmftände, unter
denen die beften Deutfchen dieses Iahrhunderts gearbeitet haben, so wird,
wer klar sieht und billig denkt, dasjenige, was ihnen gelungen ift, mit Ehr-
furcht bewundern und das, was ihnen mißlang, anftändig bedauerm
Eine bedeutende Schrift ift, wie eine bedeutende Nede, nur Folge des Lebens:
der Schriftfteller so wenig als der handelnde Menfch bildet die llmftände,
unter denen er geboren wird und nnter denen er wirkt. Feder, auch dcw
größte Genie, leidet von seinem Fahrhundert in einigen Stücken, wie er von
andern Vbrteil zieht, und einen vortrefflichen Nationalfchriftfteller kann
man nur von der Nlation fordern.

Llber auch der deutfchen Nation darf es nicht zum Vorwurfe gereichen,
daß ihre geographifche Lage sie eng zusammenhält, indem ihre politifche sie
zerftückelt. Wir wollen die llmwälzungen nicht wünfchen, die in Deutfch-
land klassifche Werke vorbereiken könnten.

llnd so ift der ungerechtefte Tadel derjenige, der den Gesichtspunkt verrückt.
Man sehe unsere Lage, wie sie war und ift, man betrachte die individuellen
Verhältnisse, in denen sich deukfche Schriftfteller bildeten, so wird man auch
den Standpunkt, aus dem sie zu beurteilen sind, leicht finden. Nlirgends in
Dentfchland ift ein Mittelpunkt gesellfchaftlicher Lebensbildung, wo sich
Schrifkfteller zusammenfänden und nach einer 2lrt, in einem Sinne, jeder
in seinem Fache, sich ausbilden könnten. Zerftreuk geboren, höchft verfchieden
erzogen, meift nur sich selbft und den Eindrücken ganz verfchiedener Verhält-
nisse überlassen; von der Vorliebe für dieses oder jenes Beispiel einheimifcher
oder fremder Literatur hingerissen; zu allerlei Versuchen, ja Pfufchereien ge-
nötigt, um ohne Llnleitung seine eigenen Kräfte zu prüfen; erft nach und nach
durch Nüchdenken von dem überzeugt, was man machen soll, durch Praktik
unterrichtet, was man machen kann; immer wieder irre gemacht durch ein
großes Publikum ohne Gefchmack, das das Schlechte nach dem Guten mit
eben demselben Vergnügen verfchlingt; dann wieder ermuntert durch
Bekanntfchaft mit der gebildeken, aber durch alle Teile des großen Reichs
zerftreuten Menge; geftärkt durch mitarbeitende, mitftrebende Zeitgenossen:
so findet sich der deutfche Schriftfteller endlich in dem männlichen Lllter, wo
ihn Sorge für seinen Ilnterhalt, Sorge für eine Familie sich nach außen
umzusehen zwingt, und wo er oft mit dem traurigften Gefühl durch 2lr-

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