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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 6 (Märzheft 1932)
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Böhm, Hans: Schriften von und über Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0443

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Im folgenden einige Autoren, die neue Auffassungen zu vertreten suchen. Hohen-
stein (Goethe, Die Pyramide; Jeß) tut es in der Form eines Mythos: er fchaut
Goethe in orphifch-platonifchem Sinn als einen der Dämonen, die, den Menfchen als
Genius erfcheinend, „zum All zurück die kürzefte Bahn" ftreben, als Menfchen ewig
vom ftumpfen Widerftand der Welt bedrängt, von der Glut ihres ^nneren bedroht,
in Liebe sich lösend, im Werk zeugend. Goethe selber hat über den vulkanifchen Kräften
seines Herzens allmählich „die Pyramide seines Daseyns" aufgeführt, der „seligen
Sehnsucht" der Gott-Einigung seinen irdifchen Tag abgerungen und sich damit einen
andern, fchtoereren Zugang zum Göttlichen erkämpft, den Weg der Besonnenheit,
Güte, Sittlichkeit. ^n zwiefachem Rhythmus vollzieht sich dieser Kampf des Rau-
fches und des GeifteS, des „Eros-Seismos" und der Weisheit, der zerftörenden und
der bauenden Kräfte: in den Perioden der „Diaftole", der AuSweitung (Straßburg
bis Weimar; Jtalien) und der „Syftole", der Zusammenziehung (Weimar vor und
nach Italien), bis das Alter in drei neuen, jedesmal ftärkeren Angriffen des Eros
(Minna Herzlieb, Marianne v. Willemer, Ulrike v. Levetzow) immer tiefere Pein,
Seligkeit und fchließliche Lösung bringt.

Soweit die Grundzüge dieses Mythos, der eine neue, eigen-sinnige und einseitige Deu-
tung von Goethes Wesen versucht, eine Deutung allerdingS von großem Reiz und
großer Fruchtbarkeit. Nie zuvor ift der glühende Untergrund der Goethifchen Natur,
die Gefahr, in der er gelebt hat, so bloßgelegt worden: Goethe von Hölderlin, Kleift,
Nietzfche her beleuchtet! Auch er also „von Dantalns' Gefchlecht", auch er immer
wieder von Tod, Wahnsinn, Selbftmord umlockt, im Pflichtgefühl der „Persönlichkeit"
sich unendlichen Leiden aufsparend. Demgemäß sieht Hohenftein die eigentlichen Hoch-
Zeiten GoetheS in den Zuftänden und Erzeugnissen solchen Raufches, also beim „jun-
gen Goethe", später in den Werken jener „zweiten Pubertät": den Wahlverwandt-
fchaften, dem Divan, der Marienbader Elegie; wogegen Wesen und Werk seiner
klassifchen Zeit als Ergebnis einer zwar notwendigen, aber doch beklagenswerten Ver-
fchüttung natürlicher Quellen gedeutet wird.

Diese nicht völlig neue, aber in so folgerichtiger und entfchiedener Weise noch nie ver-
tretene Ausfassung sucht Hohenftein durch eine eingehende Betrachtung der Werke
zu ftützen. Jndem er dabei die lyrifch-raufchhafte Grundnatur Goethes fchärfer
betont, gelangt er dazu, die Schichten der Jugenddichtungen deutlicher als bisher
zu sondern, den Eigenwert von Szenen und Szenenftücken zu erfassen; das Er-
gebnis ift u. a. eine Reihe von Urformen (des Götz, Mahomet, Fauft, Egmont,
Tasso), die er mit feinfter Einfühlungskunft, unter wechselseitiger Erhellung der
Geftalten und Motive glaubt rekonftruieren zu können. Durch ähnliche Interpre-
tation, hier geleitet und geftützt durch die überlieferten Daten der EntftehungSzeiten,
weift Hohenftein innerhalb des zweiten Fauft eiue Reihe von Szenen, die zuletzt,
von 1629—Zi, gedichteten, nach als eine letzte, höchfte Geftaltung des Fauft-
ftoffes.

Ob Hohenfteins Grundauffassung und seine Hilfs-Hypothesen, alle oder teilweise,
sich halten werden, ift nicht so erheblich. Große Einseitige sind immer wichtiger ge-
wesen als die zahme Mittelmäßigkeit, und niemand kann verkennen, daß hier ein
großer Wurf wissenfchaftlich-dichterifcher Zusammenfchau gelungen ift, ein Werk,
das sich in gewissem Betracht neben Gundolfs Goethe ftellen darf. Jn vielem ihm
verpflichtet, in faft allem anders sehend, fteht Hohenftein dem Älteren wie der Dithy-
rambiker dem Plaftiker gegenüber, so daß wir in diesen beiden so entgegengesetzten
Goethebildern — bis in das Kleinfte der Sprache hinein — den vielberufenen Gegen-
satz romantifcher und klassischer Gesinnung vor uns haben. Daß aber beide, von so
verfchiedenen Richtungen aus, Goethe für sich beanspruchen können, zeigt, wiederum,
den Reichtum dieser Geftalt und läßt ein Zusammenarbeiten so verfchiedener Erkennt-
nisse als wünfchenswert empfinden.

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