Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
DOI article:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0521

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
2lber da nrcht etwa nur Deutsche, sondern Mrllionen anderer N'ationalität
dasselbe Schicksal erleiden, ist ein Eingreifen sehr schwierig. Dennoch bleibt
diese Frage der deutschen Kolonisten, die vielsach auch nach Verbüßung ihrer
Strafzeit nicht in ihr Dorf zurückkehren, eine sehr schwere Belastung für
die deutsch-russischen Beziehungen.

Im übrigen bleibt die Frage offen: was denn überhaupt aus den Hundert-
tausenden wird, die im Kollektiv keinen Naum finden, die nicht mehr von
den Sowchosen und Kolchosen ernährt werden können? Der Kampf der
G.P.ll. gegen die Knlaken schafft auf diese Frage ganz bestimmt keine
Antwort.

*

llnd so mündet die gewaltige Kolonisationsbewegung, die in dem sowjet-
russischen Experiment enthalten ist, zunächst in eine Reihe von Problemen.
Überall ragen gigantische Anfänge ins llnendliche, Bodenlose. Nlirgends ist
die ursprüngliche Konzeption im Einzelnen dieselbe geblieben, überall ist 2ln-
passung an die russische Struktur nnd dann an die Weltwirtschaft erfolgt.
Im Kampf mit den Weltmächten des Hochkapitalismus ist ein bolschewisti-
scher Staatskapitalismus erwachsen, der von innen her, zusammen mit den
natürlichen Gegebenheiten der russischen Natur und des russischen Menschen,
die kommunistische Doktrin zurückdrängt, ohne sie ausschalten zu können. Mit
ihrer Dialektik findet sie immer wieder die entscheidenden Einwirkungsmöglich-
keiten. Das Wesentliche bleibt: daß das rnssische Volk seinen Boden neu
entdeckt, mit neuen 2lugen sehn lernt. Seit 1925 steigt die Noheisenproduk-
tion, die 9Iaphthagewinnung, die Steinkohlenförderung in steiler, durch
Nückschläge ausgezackter Kurve. Die Anbaufläche der technischen Kulturen
hat sich seit 191Z vermehrt. Schon 1927 zählte man 25000 Traktoren.
Dafür sind die Viehbestände sehr zurückgegangen. Das alles entscheidet nicht,
die Statistik sagt hier weniger aus als irgendwo anders. Das Entscheidende
bleibt: wird sich jener kolonisatorische Antrieb nachhaltig auswirken und wer-
den die Methoden dieser Kolonisation wirtschaftlich erfolgreich und dauerhaft
gestaltet werden? Dahinter steht die tiefere, die lehte Frage: wird dauernd
der rein diesseitige Antrieb des Bolschewismus, eben diese Freude des russi-
schen Volkes, sich selbjk und sein Land neu zu entdecken, ausreichen, um das
religiöse Bedürfnis auszufüllen? llnd wenn dieser Antrieb nicht mehr genügt
oder, etwa auch durch Druck von Osten her, nicht genügend durch Erfolge
genährt werden könnte: was dann?

Äus einem Drama von Tolstois Neffen, das Peter den Großen behandelt,
geht man in Moskau nachdenklich nach Hause. 2luch Peter begann mit der
Verfolgung der 2lltgläubigen, die seine heftigsten Gegner waren. 2luch er
zwang Nußland in ein gewaltiges Experiment. Er knüpfte an Europa an,
Sowjetrnßland an 2lmerika. llnter Peter I. wie unter Lenin machte Ruß-
land den Versuch, nnmittelbar aus dem Feudalismus heraus sich vorwärts
zu reißen, gewaltsam, zerstörerisch, aus den ungeheuren Reserven schöpfend,
die damals wie heute ein solches Experiment ermöglichen. Peters Versuch
endete im Bürokratismus, in ständischer Erstarrung, in der Sonderung zwi-
schen einer sehr mächtigen Oberschicht und der passiven Masse. 2luch heute
zeigen sich, nach dem gewaltigen Zerstörungsrausch der Revolution, echt rus-

459
 
Annotationen