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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0523

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Nund i Million Menschen beherrschen i6o Millionen. Nund i Million
mögen die Träger der Macht im zarrstischen Nußland gezählt haben...

Aus allen roten Bannern steht unsichtbar: die Verneinung Europas. 2lber
aus allen Propagandcrglakaten sür die Piatiletka spricht eine Bejahung Ame-
rikas. Man muß Llmerika zu Hilfe rusen, um Europa verneinen zu können.
Und um überhaupt zu der vom russischen Wesen immer wieder erstrebten
Verneinung Europas gelangen zu können, braucht man die marristische Lehre:
halb westlerische Ausklärung, halb Hegelsche Schule. Die Bekämpsung des
Kapitalismus war in Rußland früher da als der Kcrpitalismus selbst, sie
konnte sich russisch-absolut weiterbilden, ohne sich an einer dauernden kagita-
listischen Entwicklung, wie sie inzwischen im Westen stattfand, messen zu
müssen, sie konnte sich im lustleeren Raum, ohne Behinderung durch eine
kapitalistische Wirklichkeit, hoch über und Lief uuter eiuer vorkapitaliskisch-
feudalen Ordnung entwickeln. So wird Rußland die Heimat des Revolutio-
närs an sich, des Revolutionärs vor aller Nevolution, des Nevolutionars
gegen Europa, gegen die Liberal-Demokratie des Westens überhaugt.

Diese Revolution stellt sich von vornherein nicht nur außerhalb von
Europa, sondern auch außerhalb der europäischen Krise. Der Bolsche-
wismus hat diese Krise mit einem echt russischen Sprung überholt, sich
an dic SpiHe gesetzt und sieht nicht einmal auf sie zurück. Er ver-
meidet es, auf sie zurückzusehn. Krise der Ehe, der Familie, der Gene-
rationen, der alten Bindungen und Gemeinschaften, der Bernfe, der Wirt-
schaft, der Lebensführung, der Wissenschaft, des Idealismus, der Philo-
sophie: allem ist er entronnen. Er nimmt das Ende der Krise voraus, für ihn
ist Europa (das er als Ganzes sieht, ohne llnterschied zwischen französischer
und englischer Demokratie, wobei Deutschland im Zwielicht bleibt) längst
lebender Leichnam, das Endgefühl Europas bedeutet ihm Wirklichkeit, und
dieses vorausgenommene Ende Europas ist ihm Boraussetzung für sein eigenes
2lnfangsgefühl. Die Familie, die Ehe, die Berufsgemeinschaft, das Dorf, die
geistigen Gemeinschaften lösen sich auf? Sie sollen aufgelöst sein! Was Europa
in Zwiespalt stürzt, ist im Bolschewismus „liquidiert". Nicht zufällig ist dieses
Lieblingswort des Bolschewismus. Es lebe die Eröffnungsbilanz! Die Schluß-
bilanz ist vorüber und war ein freudiges, kein trauriges Ereignis.

Ist sie vorüber? Bleibt da m'cht doch eine innere Abhängigkeit? Kann das
bolschewistische Anfangsgefühl bestehn auch dann, wenn das europäische
Endgefühl überwunden wird? Wie, wenn Europa wieder zu einem Sinn
hindurchfände? Freilich nicht zu einem französischen, nationaldemokratischen,
bourgeoisen Sinn, nicht zu dem alten des Dritten Standes von 1789, der
in der Tat auch vou Deutschland aus gesehn tot ist, sondern zu einem neuen
europäischen Siun? Könnte sich dann das russische Anfangsgefühl noch
in dieser Form behaupten?

Einstweilen scheint es sich mir vor allem aus zwei Kraftquellen zu nähren:
aus der Zersplitterung Europas, hervorgerufen durch geistige und materielle
Herrschaft Frankreichs, die stark genug ist, zu hemmen, aber nicht mehr stark
genug, neu zu gestalten.
 
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