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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 8 (Maiheft 1932)
DOI article:
Michel, Wilhelm: Die Kluft zwischen den Generationen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0545

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weit wir kommen, wenn wir im Denken und Leben von unserer Freiheit und
von unserem Versiand den rücksichkslosesten Gebrauch machen — und das
AlLer diesseiLs, keineswegs immer miL dem BewußLsein des langsameren Ge-
blüts, sondern oft auch des einwandsrei besseren Wissens.

LäßL sich etwas ausmachen über die Lieseren Gründe, aus denen der Zusammen-
hang zwischen den GeneraLionen abgerissen isl? Eine SituaLion liegt vor. GibL
es eine Möglichkeit, sie eindringlicher zu verstehen als sie überall da verstanden
ist, wo der einen Seike unerlaubtes Vorwärtsstürmen, der anderen Lräges oder
seiges Zurückbleiben vorgeworsen wird?

Diese MöglichkeiL besteht. Sie wird sichtbar, sobald der Blick sich aus das-
jenige richtek, was hinker Vorstoß und Zögerung als ein Vernrsachendes
Lieferer Ordnung erscheint: jene beispiellose Tempobeschleunigung der knltu-
rellen Veränderung, die wir in den letzten JahrzehnLen erlebt haben. Derübliche
Zusammenhang zwischen den Generationen wäre heute wie stets gewahrt ge-
blieben, wenn die kulturelle Ilmbildnng in ähnlichem Temgo wie sonst erfolgt
wäre. Er ist abgerissen, weil von einem bestimmten Zeitgunkt an das ITeue
in so bestürzenden OuantitäLen hereinbrach, daß Begrisssbildung, Llnpassung
der Gesühle, menschengestaltiges VerhalLen nicht mitkamen, daß die beweg-
licheren Alkersstusen nach vorne gerissen wurden, um in Fühlung mit dem Ge-
schehen zu bleiben, nnter Abwersung jenes Gepäcks an WerLen, das überall
erst die Menschensorm gewährleistet. Dem Was nach ist das Neue, welches
da einbrach, seit langem bekannt: es ist die moderne EnLwicklung der Technik,
der Zndustrie, des KapiLalismus samt den soziologischen Veränderungen, die
damit einhergingen. Die gesährliche Tempobeschleunigung aber hat der Krieg
gebracht und noch mehr der ihm solgende „Friede". Das Ergebnis ist: Zer-
störung aller sesten Lebensräume, Zersall aller sesten Grenzen, die bisher dem
Menschen als einem sozialen und ökonomischen Wesen gesetzt waren; Ein-
LriLt jeden Tuns in unübersehbare Zusammenhänge; Aussiedelungen ohne Zahl,
ost ohne OrLsveränderung; ökonomische, indnstrielle, sinanzielle Anarchie; über-
all ein Llnlegen neuer Räume, neuer Wertreihen ohne Wegesührung, ohne er-
blickte Ziele; überall die dringende Llufsorderung znm Wagnis bei Verstellung
jeder Sicht. Dazu kommen die besremdlichen, erschüLLernden Borgänge im
Bereich des Denkens und des wissenschastlichen Forschens. Neue Borstel-
lungen vom Menschen, neue GeschichLsbilder, neue WelLbilder; Umwälzun-
gen allerorten, die konzenLrisch nur aus Eines deuten: ein großes Umdenken
über viele alte Begrifse und WerLe ist notwendig. NichL nur neue Lebens- und
Berussräume, sondern anch neue Bewußtseinsräume dehnen sich vor nns, und
wir müssen sie besiedeln, weil es unser Menschentum selbst ist, was uns in
sie hinausruft.

Dieser Ruf ist es, dem die Zugend rascher und vollständiger entsprochen hat
als die ältere Generation. Der Borstoß der Zugend ist der Hechtsprung, mit
denr sich der Mensch nach vorwärts wirft, uni in Fühlung mit dem stürmisch
voraneilenden Geschehen zu bleiben. Die Zugend unLernimmt diesen Borstoß
nicht als „eigene" Sache, sondern in Bertretung für alle. Sie LuL jenen HechL-
sprung nicht aus freien Stücken, sondern sie wird geschleudert. Sie wird nach
vorwärts geschleudert von einer übermächtigen GewalL der Zeit. Was ge-
schehen muß, kann im jetzigen Llugenblick nicht in KonLinuitäL geschehen, es
 
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