Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 8 (Maiheft 1932)
DOI article:
Umschau
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0592

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
diesern Umfang aus Eigenem erhalten
können, befinden sie sich auf allen Gebie-
ten in voller Krise. Denn nicht rmr poli-
tisch ist ihr Zustand widernatürlich und
nicht nur wirtschaftlich sind sie durch ihre
Orientierung nach Frankreich hin verge-
waltigt, sondern auch soziologisch und
seelisch leben sie gegen ihre Natur. Ohne
eine die westliche liberale Demokratie
tragende Mittelschicht, stehen sich fran-
zösisierte, verwestlichte und angeschwollene
Jntelligenz und die bäuerlichen Massen
gegenüber, die sich noch in jeder Beziehung
in einem seelisch, religiös, technisch, poli-
tisch gebundenen Lebenszustand befinden.

3-

Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Do-
nauraumS sind bekannt, aber sie werden
von allen „Interessenten" absichtlich über-
sehen. In Wirklichkeit hat dieser Raum
für alle Mächte in erster Linie politischeö
Interesse, und es gehört zu den großen
Täuschungen der deutschen Politik, daß sie
diese Tatsache übersehen hat. Die Ge-
schichte der Zollunion sollte uns eine Lek-
tion sein. Wir könnten mit Engelszungen
reden, daß wir sie nur wirtschaftlich ge-
meint haben, es wird uns niemand glau-
ben, und es wäre schlimm, wenn wir nach
und nach selbst daran glaubten, denn
dann würde auch das soeben auögespro-
chene deutsche Nein an Wert verlieren.
Die im Donauraum vergewaltigten Wirt-
schafts- und Naumgesetze können und
werden in daS politische Kraftfeld auf-
steigen, einstweilen aber werden fie noch
durch das Politische überlagert. Die
Donanstaaten selbst, mit Ausnahme viel-
leicht Österreichs, daS ermattet und hoff-
nungslos wird, setzen einstweilen noch po-
litische Werte über wirtschaftliche. Ihre
nengewonnene Freiheit oder Einheit oder
Größe ist ihnen noch ein wirtschaftliches
Opfer wert, und wo die Massen bereit
wären, den natürlichen Läufen zu fol-
gen, klammert sich das seweilige Regi-
me oder die Intelligsnz um so enger an
ihren politischen Dormund, und der ist
immer noch Frankreich. Die Entbeh-
rungsfähigkeit der Massen kommt diesem
Regime entgegen. Die Ressentiments ge-
gen die alten Herren, der Stolz heute der
Herr jener Herren zu sein, die aus jahr-
hundertealten Kämpfen stammenden In-
stinkte leben immer noch. Dazu kommt
die prinzipielle Furcht vor einer, auch der
kkeinsten Änderung. Man fühlt, wenn

aus diesem künstlichen System ein Stein
herausbricht, dann stürzen alle Grenzen,
dann verlieren vor allem Tausende von
großen und kleinen Nußnießern des Sy-
stems der Nachkriegsordnnng ihre politi-
sche und materielle Existenz. Immerhin,
die Wirkungen der Weltkrise scheinen nun
die Grenze erreicht zu haben, wo die Ent-
behrungskraft der südöstlichen Bauern-
massen zu Ende geht. Die südslawifchen
Massen, in sich schon nach Bölkerstäm-
men gespalten, warten nur auf den Füh-
rer aus der Intelligenz und dem Heer,
um ihrem Elend Luft zu machen. König
Alexander baut nicht umsonst in diesen
Wochen die Diktatur ab. In Rumänien
steht es ähnlich. In Ungarn gärt es
ebenfalls, obwohl hier dem Regime von
außen her die Hände gebunden sind. Vor
dem österreichischen Moratorium zittert
das Haus Rothschild in London. Solange
aber das Regime, der offizielle Apparat,
verkörpert in den Monarchien, der Büro-
kratie, der Polizei, der Armee, gewissen
Parteicliguen, dnrch das politische oder
spekulierende Auslandskapital ausgehal-
ten werden, bleibt die gegenwärtige Ord-
nung erhalten. Man scheint nun aber
selbst für diese Schicht kein Geld mehr
zu haben. Und dann wird die Lage ernst.

4

Hier blicken wir m den tiefsten Hintev-
grund des Tardieuplanes. Frankreich sieht
durch die Krisenfolgen sein Herrschaftssy-
stem im Südosten bedroht. Es wird zu
kostspielig, wenn man selbst immer tie-
fer in die Krise gerät. Staatsgelder hat
Frankreich zurzeit nicht bereit. Private
Gelder sind so lange nicht zu bekommen,
als der französische Sparer nicht bombeu-
sichere Garantien sieht. Das alte Geld
ist bedroht, wer wird da gutes Geld dem
schlechten nachwerfen? Die Klientel aber
kommt mit immer drohenderen Forderun-
gen, sie kommt aus Wien, aus Prag, aus
Bukarest, aus Belgrad und Budapest, ja
aus Sofia und Athen (für die man sich
gar nicht direkt verantwortlich fühlt).
Herrn Tardien mag dabei wohl der Kopf
brummen. Wichtiger aber: selbst wenn die
Kleine Entente in der Treue erhalten und
Osterreich-Ungarn zu politischen Hilfskon-
tingenten gezwungen werden könnten, so
verlieren sie als ausgepowerte, krisenge-
schüttelte, ermattete Staaten stark an
Bündniswert. MindestenS ihre Nüstungs-
ausgaben müßten Frankreich zur Last fal-

527
 
Annotationen