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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1932)
DOI Artikel:
Wiechert, Ernst: Über neurussische Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0739

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der Stoffe, Tiefe der Leidenschaft, Dämonie des Schicksals, die weitgespannte Linie
epischer Kunstform, der wilde, fast schmerzliche Glaube an eine neue Welt, die
Unterordnung deS Kunstwerkes unter die gleiche Jdee, ja, so seltsam es klingen mag:
fast eine neue Religion.

Aber es wäre seltsam, wenn eine Umschichtung der Weltordnung nicht Gestalten
beider Zeitalter auf die Bühne der Literatur stellen wollte: die heroischen deS Auf-
stiegs und die zerbröckelnden des Untergangs. Und wenn sie serner an der Darstel-
lung dessen vorübergehen wollte, was zu allen Zeiten in das Wesen der Kunst ver-
flochten gewesen ist: die Beziehung der beiden Geschlechter zu einander. Denn wenn
der Sowjetstaat eine neue Ethik deS Staates ausgerichtet hat, so hat er nicht minder
tief in daö Leben der Jndividuen eingegriffen und eine neue Ethik der Geschlechter
wenn nicht verlangt, so doch sreigegeben. blnd aus der Verslechtung dieser beiden
Stofse, der Auszeigung einer absinkenden oder grollenden oder sich anpassenden
Schicht, und der Auszeigung der Neuordnung seelischer Beziehungen, ergibt sich die
zweite große Gruppe russischer Dichtung, die zum Wesentlichen eineS Querschnittes
gehört. Hier steht das Jndividuum vor dem Kvllektiv, der Charakter vor dem Welt-
bild, das Private vor dem Staatliähen, das Humoristische, Jronische, Zynische mei-
stens, nicht immer, vor dem Tragischen. Hier herrschen die Gogols und Tschechows
der Gegenwart. Und hier werden die Widerstände des abendländischen Menschen
stärker sein, weil die Widerstände deö Gefühls immer stärker sind als die des Ver-
standes oder der Vernunst. Und hier wird auch die Kritik vom Künstlerischen her
bewußter sein, weil die Gestaltung des StofseS nicht immer gelungen ist. Was den
Büchern der ersten Gruppe Größe verlieh, war die Erhöhung des Menschen zu einer
größeren Form der Arbeit, der Entbehrung, der Hingabe, des Verzichtes. Ein Wach-
sen der Allgemeinpslicht und ein Sinken der Einzelrechte. Was hingegen den Bü-
chern der zweiten Gruppe daS Bedenkliche gibt, ist das Absinken der Allgemein-
pflichten und das Wachsen der Einzelrechte. Die Tatsache, daß der Boden einer
neuen Ethik zu einem Wachstum der Verantwortung, aber auch der Derantwortungs-
losigkeit sühren kann.

Unter den Gestaltungen dieses Zwischenreiches, das nicht nur eines der erotischen,
sondern der allgemein menschlichen Beziehungen ist, des schwankenden Bodens, auf
dem eine absterbende Schicht nach Einordnung in eine neue Weltordnung sucht, steht
Gladkow von neuem an der Spitze mit der Erzählung „Marussja stistet Ver-
wirrung" (russischer Titel: „Trunkene Sonne"). Ein Sanatorium sür Kommunisten
in der Krim. Und darin eine überwältigende Reche erbarmungslos schars gesehener
Gestalten von einem verblüfsenden Reichtum an Echtheit, Tragik und jenem grim-
migen Humor, der seit den „Toten Seelen" nicht erloschen ist. Aber von einer
gänzlich unbürgerlichen Tragik und Komik. Kommunisten, die nach zehn Jahren sa-
natischer Arbeit nicht mehr zu leben vermögen, und solche, die wie die „Hulligane"
nichts anderes verstehen, als in Zote, Wüstheit und Zügellosigkeit zu vegetieren. Eine
umgelagerte Welt mit einer sinsteren Gesetzlichkeit. Aber wie hier Erde und Mensch
verflochten sind, flammende Sonne und slammendeS Schicksal, das ist bewun-
dernswert.

Beginnt hier schon die „Heldensphäre" des Kunstwerkes sich nach der erotischen
Seite zu verschieben, so steht das Problem der Liebe und im engeren Sinne das der
Ehe noch mehr im Mittelpunkt bei Lydia Sejfullina „Wirinea", bei Ferdi-
nand Goetel „Von Tag zu Tag", Vera Jnber „Platz an der Sonne", Tschet-
werikow „Die Rebellion des Jngenieurs Karinski" und Romanow „Drei
Paar Seidenstrümpse". Bei aller Verschiedenheit der Schauplätze, der künstlerischen
Mittel, der Problemstellung ist allen diesen Werken eine bestimmte Radikalitat der
Lösung gemeinsam, eine der russischen Dichtung aller Zeiten eigentümliche Konse-
quenz der Durchführung, ja, gleichsam eine Besessenheit des PrinzipS, die rücksichtsloS

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