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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1932)
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Wiechert, Ernst: Über neurussische Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0740

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über die Opfer, der Sache wie der Form, hinwegsteigt. Allen überlegen die Kunst
Goetels, ironisch, bewnßt, zergliedecnd in der Darstellnng der Ehe, weich, verdäm-
mernd, verklärt in der Darstellung der „unerlaubten Liebe". Erschütterung nicht uur
durch das Geschehen, sondern auch durch die Mittel der Sprache. Zusammengepreßte
Fähigkeit, das Wilde wie das Zarte, das Problematische wie das Einfache so zu
sagen, daß es bezwingend dasteht. Mischung von funkelnder Klugheit und schwerer
Leidenschaft, die felten begegnet.

Dasselbe matter in „Wirinea" und im „Platz an der Sonne". Und bei aller An-
erkennung bestimmter künstlerischer Werte dasselbe kaum erträglich bei Dimitri
Tschetwerikow: „Die Rebellion des Jngenieurs Karinski" und bei Panteleimon Ro-
manow: „Drei Paar Seidenstrümpfe." Beide Bücher nehmen ihr Thema aus
den Spannungen der „Helden" mit den neuen Formen dec Macht und der Liebe.
Aber da wir immer nvch der Ansicht sind, daß Rebellionen aus einer sittlichen Jdee
aufsteigen müssen und nicht aus der Epidermis des einzelnen oder der Völker, so
verlangen wir in der Kunst eine tiefere Verwurzelung als die in der Schicht der
SinneSorgane. Liebe und Ehe sind für uns keine Angelegenheiten der „Sachlichkeit",
und wenn wir auch damit einverstanden sind, daß sie aus dem Boden vergangener
Bindungen gelöst und auf einen neuen ethischen Boden gestellt werden, so scheint
es uns kein Verdienst, wenn sie auch auS dem Boden seelischer Verflechtungen gelöst
und auf eine Glasplatte unter das Mikroskop gelegt werden. Man lese dazu die
Schilderung der Wohnung Kisljakows bei Romanow, in der zehn Familien mit
Z7 Personen hausen. Hier steigen die Konslikte wie Gerüche aus einer Abfallgrube
empor, und waS hier geschieht, ist ein erbarmungsloses Bild der Enge, des Hasses,
der Zerstörung. Ein Mistbeet der Fäulnis, der Käfig einer Jdee, in dem die Einge-
sperrten einander zerfleischen. Und selbst wenn, wie bei dem unappetitlichen „Roit-
fchwanz" des maßlos überschätzten Jlja Ehrenburg, unter Verzicht auf Konse-
guenz der Kompromiß dargestellt und mit groteskem Humor garniert wird: keine
Verleger- und Literaturreklame wird diese Bücher in dem Jnnern unserer Seelen
heimisch machen. Jhr künstlerisches Vermögen hat größere Vorbilder, ihr Humor
ist peinlich, ihre Tragik quälend, ihre Wurzeln sind vergiftet, ihre Ziele unbegreiflich.
Und was bleibt, ist ein großes Mitleid mit der Entgötterung einer Welt, aus der,
nach Dostojewski, einmal der „weiße Heiland" auferstehen sollte.

Nur ein einziges Werk scheint mir wert, auS dieser dumpfen Schicht der Literatur
emporgehoben zu werden, die „andere Seite" der Revolution: Matwej Roes-
manns „Fischbein streckt die Wasfen". Aron Salomonowitsch Fischbein, Vorsteher
des Moskauer Choraltempels, Wohltäter, Großkaufmann und Großschieber, wan-
dert vor unsern Augen vom „flotten jungen Mann", der seinem Vater drei, vier
Rubel aus der Kasse nimmt, über die Höhen des Glanzes bis zur zweieinhalbjährigen
Verschickung nach der Krim. ,Minu8 8eÜ65t" heißt der russische Titel, d. h. minuS
sechs, Fachausdruck für alle Wissenden für „drei Jahre minus sechs Monate". Hier
ist die andere Seite der Revolution. Hier ist der Mann mit dem „Boden der Tat-
sachen", mit dem Jnstinkt für Gefchäfte, für Konjunktur, geldliche und politische.
Hier ist Raffke, der auch am Kommunismus verdient, aber ein gutmütiger Raffke,
der lebt und leben läßt, ein Raffke mit Humor, mit einem Tropfen Tragik im Becher
der Komik. Ohne Gott außer dem des Mammons, aber ein getreuer und fähiger
Knecht dieses Weinbergs. Ein lächerlicher Mensch, aber weit entfernt in der Gestal-
tung von der jüdischen Lächerlichkeit, die aus dem erbarmungslosen Jntellekt kommt,
die bis zum Beißenden des Witzes gelangt und verletzt, weil sie verzerrt. Ein lächer-
licher Mensch durch die Naivität seiner Gebrechen, burch die Dffentlichkeit seines
seelischen „Exhibitionismus", ein Clown, der verwundert ins Publikum sieht. blnd
dadurch über das Lächerliche hinauswachsend, mit dem melancholischen Unterton
einer Jazzkapelle. Ein Verlierer mit großen Einsätzen, dem nicht Unrecht geschieht,

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