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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1932)
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Wiechert, Ernst: Über neurussische Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0741

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aber für den wir am Ende gern in die Tasche greisen möchten, um ihm ein wenig
zu helfen. Ein kleiner Chaplin in der großen GeschichLe.

Und nm ihn herum eine llnerschöpfliche Fülle lebensfllnkelnder Gestalten: Familie,
Miethaus, Stadt, Regiernng. Aufgezeichnet, wie sie sind. Ohne Barmherzigkeit,
aber auch ohne Haß. Typen für Millionen, aber so, daß es einmalige ^sndividuen
sind. Zusammenfassnllg des Stils in die schärfste Form. Frech, aber nicht frivol.
Scharf, aber nicht karikaturistisch. Geistvokl, aber nicht geistreich. Jronisch, aber ohne
Hohn. Ein großer Künstler, der ans dem Tragischen einer Völkerwende das halb
Lächerliche, halb Wehmütige des Allzumenschlichen herauSrettet und herausgestaltet.
Unvergeßlich der Schluß. Fischbein auf der Verbannungsfahrt (I. Klasse). Aufheu-
len aller Sirenen. Alle Schaffner im Gang des fahrenden ZugeS stehen stramm.
„Was ist geschehen?" „Lenin wird beerdigt." Fischbein weiß nicht, was tun. Stehen-
bleiben heißt sich erkälten. Fortgehen heißt die Revolution beleidigen. „Und er blieb
stehen, bemühte sich, die Hände an der Hosennaht zu halten, und redete sich zu:
,Lieber zwei Tage niesen, als sich vierzehn Tage fürchten/".

Die Philosophie einer Schicht, einer Rasse, eines Zeitalters. Und das Werk eines
souveränen KünstlerS. Es bleibt hinzuzufügen: der Hinweis auf daö höchst belehrende
„Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew" (die neue Schule im Sow-
jetstaat) und der Hinweis auf ein paar „neutrale" Darstellüngen, die daS russische
Bild ergänzen, ohne zeitlich oder inhaltlich mit der russischen Gegenwart verslochten
zu sein: „Felix Grollimunds russischeS Abenteuer" (von Dominik M ü l l e r), Spie-
gelbild einer problematischen Natur, breit, altfränkisch, ernst und sauber; „Moskau
in Flammen" (von Lukas ch), (das Unentrinnbare des Gesetzlichen im Geschehen
der Geschichte, von der Ermordung des Zaren Paul bis zum toten Lenin und seinem
Moskauer Sarkophag, ein außerordentliches Maß an Kunst, Weisheit, Sparsam-
keit, AuSwahl. Eines der wenigen Bücher, von denen man wünscht, es möchte 600
statt goo Seiten haben); und Levins „Kindheit im Exil", die Welt des Iudentums
in der Kleinstadt an der Beresina, voller Dunkel, Geheimnis, Wunder und Größe.
Trauer des Exils, Glaube der Väter. Ein makelloses und ergreifendes Buch.

Von dieser neutralen Zone nun kommt die Betrachtung in den Bereich der Gegen-
seite. Es muß zugegeben werden, daß die „weiße" Literatur weder an Umfang noch
an Kraft sich mit der „roten" zu messen vermag, nur über die sittlichen Gründe der
Parteien darf darauS nichts gefolgert werden. DaS wäre ein „weites Feld", und
dieser Aufsatz hat nur seinen Rand zu streifen. Bei den weißgardistischen „Schinken"
Krasnows genügt eine Warnung. Bei Brenners „GotteStheater" die Fest-
stellung, daß es schön ist, sein Vaterland zu lieben, aber nicht immer schön, Romane
aus dieser Liebe zu schreiben. Bei Adelon „Die Flucht aus dem Kreml" die Er-
innerung an die unsterblichen Taten Old Shatterhands. Bei Eckerskorn „Die
Hölle im Sowjetparadies" und Steiner „Skarree! Skarree!" der Wunsch, es
möchte weniger Verleger geben und es möchte nicht jeder normale Mitteleuropäer
sich benötigt sehen, die Memoiren oder Phantasien seines mehr oder weniger küm-
merlichen LebenS der Mit- und Nachwelt zu verkünden.

Nur eines dieser Bücher — SchmeljowS „Sonne der Toten" ist mir leider nicht
zugänglich gewesen — verdient es, über diese dumpfe Prozession wie ein Schmerzens-
bild herausgehoben zu werden: Alexandra RachmanowaS „Studenten, Liebe,
Tscheka und Tod", Tagebücher der Studentin Alja 1916—1921. Vom reichen Eltern-
haus und der Zartheit eines Mädchenmorgens bis zum Flüchtlingswaggon in Omsk,
zum Flecktyphus und Hunger, zum Schmutz, zur Marter, zum Tode. Von der Tochter
„aus gutem Hause" bis zum „Jntelligenzschwein". Das große und furchtbare Schick-
sal aus Dwingers „Zwischen Weiß und Rot". Ebenso schlicht erzählt, ohne Haß,
außer, wie bei Dwinger, bei der Schilderung der Salon- und Proviantzüge, in
denen Franzosen, Engländer, Amerikaner, Tschechen und Iapaner kalt und verächt-

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