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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 10 (Juliheft 1932)
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Wiechert, Ernst: Über neurussische Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0742

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lich an den Hungcrnden, Bettelnden, Srerbenden vorüberfahren. Indes an den Bahn-
dammen die WaggonS noch rauchen, in denen Frauen und Kinder von roten P^arli-
sanen zu Hunderlen hingeschlachtet liegen. WaS ist die Dantesche Hölle gegen diesen
TodeSzug von Hunderttausenden, die vom Ural bis zum Baikalsee aus dem „Großen
Trakt" verdarben? Rache sür die Katorga? Ach, welche Schändung kommt der gleich,
die der Mensch an seinem Gott begeht! blnd nun bauen sie an ihrer neuen Erde,
dort an denselben Straßen, und wissen nicht, daß jedes Korn, daS sie zum Brote
mahlen, das Blut einer gemordeten Generation enthält. So wenig wir wissen, daß
wir von demselben Brote essen, weil nicht daS Göttliche die Welt regiert, sondern daS
Geschäst. blnd das Geschäst löscht alles aus. Wo ist das Gewissen der Welt, daß es
diesen Dingen zusah, schweigend, ohne die Hand zu rühren? blnd wo ist das Ge-
schlecht, das dieses Käinsmal auslöschen wird von unserer Stirn?

Und nun bleibt nach der Darsteilung alles Bitteren! der Zeitkunst das schöne Recht
deS Berichterstatters, zu dem Versöhnenden zu sühren, das aus dem Zeitlosen russi-
scher Gegenwartsdichtung sich aushebt, zu den Büchern von Nisowoj und ^wan
Schmeljow. Gewiß, es liegt ein heroischer Glanz über den Werken der Gladkow,
Leonow, Panferow, wie ein heroischer Glanz, über der Geburt der Welt liegt, aus
der sie schöpfen. Aber wir werden zu dem falschen Glauben verführt, daß es keinen
Heroismus gebe außec diesem, kein Lächeln nnd keine Träne außer dem Lächeln und
der Träne, die hier ausleuchten. Bis wir sehen, daß die Zeit nichts als einer der
tausend Rahmen ist, die um daö Bild des Menschen gelegt werden können. „Das
Eismeer" des Pawel Nisowoj ist eines von den großen schlichten Büchern, die aus
der Seele des DichterS ausgestiegen sind, wie die Saat aus dem Acker aussteigt:
voller Wunder und ganz selbstverständlich, voller blbersluß und ganz sparsam, voller
Herbheit und ganz zart in den seelischen Bezirken. Der Roman des Fischers und
Helden William (und vielleicht mehr noch der seiner Frau Wera), der an der Küste
des Eismeeres ein HauS baut, eine zarte Frau dorthin verpflanzt, und viele Jahre
lang in Gefahr ist, dies alles zn verlieren: Besitz, Liebe der Frau, Glück nnd Leben.
Und der am Ende mit Weib und sünf Kindern dasteht als ein Meister des Däseins.
Kraft strömt von ihm und diesem Buche aus, Glauben und jene Zuversicht, die aus
den großen Werken des Menschen in uns übersließt. Es gibt großartige Szenen in
diesem Roman, einen wilden Atem des Geschehens, eine vorbildliche Schlichtheit in
der Darstellung des scheinbar Kleinen und Belanglosen. Ohm ist gegeben, sagen zu
können, waü gesagt werden soll, nnd zu verschweigen, was nicht gesagt zu werden
braucht. Hier ist die Einsachheit Hamsunscher Welt und die süße Versunkenheit der
des Gunnarsson. blnd, was mehr ist: ein eigener Mensch, eine eigene Kunst, eine
eigene Erschütterung.

Sanfter in den Linien, sparsamer im Geschehen, aber vielleicht noch schlackenloser in
allem Menschlichen nnd Künstlerischen sind die beiden Bücher Jwan Schmeljows
(„Liebe in der Krim" und „Dorsrühling"), des nun in Frankreich lebenden Emigranten,
den die Revolution alles dessen beraubte, was an Besih, an Glück, an ruhiger Ge-
wißheit des Lebens ihm zugesallen war. Es geschieht wenig in dieser Geschichte einer
Liebe, nicht mehr, als daß ein primitives Menschenherz an der „Macht der Verhält-
nisse" zerbricht. Es ist kein Reichtum an Gestalten: tatarische Menschen, lose aber
solgenschwer neben das Kurpublikum gestellt. Es ist keine Häufung, keine Rassiniert-
heit der Konslikte: Liebe von Naturkindern, über die das Schicksal hinweggeht, wie
am Schluß das Erdbeben über die Stadt hinweggeht und der Herbst verdorren läßt,
was in Blüte und junger Frucht nach öer Ewigkeit zu trachten schien. Auf den ersten
Blick etwa die Linie Turgenjews sortsetzend („Frühlingswogen"), aber auf eine nicht
zu vergleichende Weise vertiest und leidenschaftlich gesteigert. Ich kenne niemanöen
außer Oacobsen, bei dem ein solcher Rausch des Lichtes, der Farbe, des DusteS zu
finden wäre, wie hier. Bei dem eine solche Auflösung des Menschen in die Natuv

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