Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben (45.1931-1932)

vor sich geht, ein Hingegebensein an Sehnsucht nnd Erfüllung der Erde. So sehr nnd
mit so zwingender Eindringlichkeit, daß alles Menschenschicksal nichts weiter zu sein
scheint als eine schöne und traurige Blüte, die aus der Fruchtbarkeit dieser Erde em-
pormächst, der Glückseli-gkeit so teilhastig wie des Welkens, und ich glaube nichts Bes-
seres von dieser Geschichte sagen zu können, als daß sie, wie das Reisste bei Hamsun
etwa, an das Goethewort erinnert, daß nichts Größeres uns geschehen könne, als daß
sich Gott-Natur uns ossenbare.

Und keinem Leser könnte der nicht zu überbrückende Abstand zwischen Literatur und
Kunst anschaulicher gemacht werden, als wenn man ihn von einem der „Standard-
werke" unseres Asphalts, Ernst Glaesers „Jahrgang 1902" etwa, zu Schmeljows
„Vorsrühling" führte. ^sn diesem Roman eines Knaben wird die Seligkeit und die
Verzweiflung, die „Ruchlosigkeit" und die Heiligkeit einer ersten Liebe mit einer
Zartheit und Leidenschast ohnegleichen geschildert. Welch ein rührender Glanz um die
Gestalt deS HansmädchenS Pascha, welch ein großartiger Humor um den 17jährigen
Lebemann Schenjka, um die einäugige Versührerin Serasima! Eine Kunst, die das
Tragische (Stepan, Karich) in daS Jdyllische hineinsetzt, das Heilige in daS Allzu-
menschliche, das Pathos in die Schlichtheit, die Resignation an den Rand zerbröckeln-
der Leidenschaft. Ich müßte lange suchen in der rnssischen Dichtung, vielleicht bis
zu Natascha Rostow bei Tolstoj, ehe ich eine Gestalt wiedersände wie die der Pascha,
mit einer Kunst gezeichnet, die nicht nur beglückend, sondern sast beseligend ist. Ein
Glanz unsäglicher Reinheit liegt um diese Gestalten, eine greisbare Deutlichkeit der
Menschenschilderung, ein unerhörteS Vermögen der Sprache, der Ordnung, der Ein-
sühlung, der Überlegenheit.

Damit ist dieser Versuch der Berichterstattung beendet. Sie hat sich bemüht, ihre
Wertung allein aus das Dichterische statt aus das Weltanschauliche zu gründen. Sie
hat auf beiden Seiten zu loben und aus beiden Seiten zu tadeln gehabt. Sie hat
ni'cht sagen können, daß die Sowjetdichtung ohne ein neues EthoS sei, und sie hat
das EthoS der Emigrantendichtung nicht immer sür ausreichend gehalten. Sie hat
auch nicht behauptet, daß alle Zeitkunst ohne weitereS aller zeitlosen Kunst überlegen
sei. Aber wenn sie noch einmal rückblickend den Bogen der Dichtung überblickt, der
sich hier über einen Zeitraum von zehn Jahren und über einen Schicksalsraum von
Blut und Tränen, von Arbeit und Verzweislung, von Opfer und Hingabe spannt, so
hebt sich ihr, allein aus diesen Dichtungen, doch ganz leise das erschütternde Gesühl,
daß hier vielleicht schon, unterirdisch, überschrieen gleichsam, die Stimme eines Welt-
gerichtes anfstehe, die nichts zu sagen hat und nichts zu sagen braucht als das Wort
alles Menschheitsgerichtes: „Wo ist dein Bruder Abel?"

Und darin, aber auch nur darin allein, kann man eine Wertung erblicken, die über
daS Dichterische hinauS in den Urgrund deS Dichterischen zu greifen versucht: in das
Menschliche. Ernst Wiechert

Bibliographie. Gladkow „Zement" (Derlag sür Literatur und Politik). Leonow „Auf-
bau", „Oer Oieb", „Oie Bauern von Wory" (Zsolnay). Panferow „Oie Genossenschaft
der Habenichtse", „Oie Kommune der Habenichtse" (Berlag für Literatur und Politik). Pilnjak
„Oie Wolga sällt ins Kaspische Meer". „zo neue Erzähler deö neuen Rußland"
(Malik-Derlag). Gladkow „Marussja stiftet Derwirrung" (Tal L> Co.). Sejfullina
„Wirinea" (Malik). Goetel „Von Tag zu Tag" (Zsolnay). Znber „Oer Platz an der
Sonne (Malik). Tschetwerikow „Oie Rebellion des ZngenieurS Karinski" (Oer Bücher-
kreis, Berlin). Romanow „Orei Paar Seidenstrümpfe" (UniversitaS, Berlin). Ehren-
burg „Roitschwanz. Roesmann „Fischbein streckt die Waffen" (Bruno Cassirer).
,,Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew" (Derlag der Zugendinternationale). Müller
„Felch Grollimunds russisches Abenteuer" (Grethlein ör Co.). Lukasch „Moskau in Flammen"
(Oietrich Reimer). Levin „Kindheit im Exil" (Rowohlt). Brenner „Gottestheater"
(Leopold Klotz, Gotha). Adelon „Oie Flucht aus dem Kreml" (Knorr A Hirth, München).

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