ausgetrieben. Das Bild wirkt unheimlich. Was es zeigt, ist gar nicht fremd, aber
Seurat hat diesen Alltag kritisch bezwungen, ein Zeichen daraus gemacht, das
allein uns so fremd vorkommt. Doch als solches, als Zeichen der trüben Elends--
grundlage und mechanisierten Kraftdummheit dieser ganzen Massenwelt, geht es
nun gegen uns an und ist dann gar nicht mehr fremd. Es ist unsere eigene, alltäglichste,
aber ganz in verschärfende Stil-Schatten übersetzte Welt, die uns aus diesem Bild
schon anfällt — als stammte es von den Surrealisten der Gegenwart.
DaS i/t der Blick auf die französifche Kunst, den diese Ausstellung ermöglichr. Bleibt
noch, daß wir die Säle mit Zeichnungen erwähnen. Manches Aufschlußreiche auch
hier. Aber die Auswahl war ohne erkennbaren Gesichtspunkt, noch mehr als bei
den Gemälden. Ein Glück, daß dank dem gleichen Zufall, der die Zusammenstellung
bestimmte, der Betrachter doch bisweilen auch ankommen konnte, und zwar nicht
vor vereinzelten Kunstwerken, wie es den meisten genügt, sondern in dem geistigen
Sinn ihrer Herkunft selbst.
Frankreich — das innerste Europa?
Geht man nach langem Betrachten wieder auf die Londoner Straßen, so wird ein
Nachklang sehr stark, der uns nie so berührt, wenn wir in Frankreich selbst sind. Es
ist dieses weich Verflossene, auch Matte, ja sogar Muffige, Verschlisfene und
Halbtonige der französischen Kunst. Die glatte, künstliche und zugleich wieder auf
eine laue Weife lebendige und pulsende Haut aller Dinge wundert uns in der Er-
innerung. Das weiche Wogen dämmriger Triebe und strenger Grenzen durchein-
ander erregt hier ein größeres Staunen als im Lande selbst.
Denn ringSum fällt das Gegenteil, das zunächst viel klarere Gegenteil auf, nämlich
das verstockt Geprägte der englischen Umgebung. Wenn hier die Grenzen einmal
zu strasf gezogen werden, so daß eine sonst wohl ausreichende Form zerplatzt, so
findet sich die Unordnung nicht in weichem Verschwimmen wieder zurecht. Sondern
dann zersetzt sich alles trübe, fahl und geronnen. DeShalb gab sich Hier die ita-
lienische Ausstellung leichter verwandt als die französische. Geht alles klar, so dringt
die italienische Form, wenn auch mager und trocken, gut in dieses Volk ein. Und
ein gewisses, leidendes Traumdämmern hat sich oft genug in den englischen Gefühls-
welten mit der dürren und hellen Verwesung verwandt gefühlt, die sich im iZ.
Iahrhundert in Jtalien mehrfach findet. ^sede dieser Näherungen verbleibt aller-
dings unter den Stufen, die Jtalien gewann.
Der AuSgleich, den Frankreich in einer ebenso verdächtigen wie unnachahmlichen
und bewundernswerten Ordnung des Unvereinbaren gefunden hat, eben in seinem
Vitalrationaliömus — das ist etwas, was in dieser Randgegend Europas noch mehr
als bei unS in Deutschland als fremd, unerringbar und doch immer wieder ver-
lockend, süß und wie ein leßtes Heilgift für das national zerrissene Europa auf uns
eindringt. Und zugleich, scheint mir, auch als Motto für den Beginn eines Europa,
das die Nationalstaalen (nicht das Volkhaft-Eigene) überwindet und selbst als
Ganzes ein großer „Nationalstaat" wird. Doch was in Frankreich als Europa
gilt, zeigt schon im Grundriß jenes merkwürdige, überlegen erschlichene Gleichgewicht,
aus dem auch Frankreich selbst und seine Kultur besteht. An die Jdee „Europa"
wird kaum anderswo so sehr gedacht, wie in Frankreich; aber zugleich ist die
wirkliche Erfassung EuropaS dadurch sehr behindert, daß es fast ausschließlich im
Bilde Frankreichs gesehen wird. Diese Schwierigkeit wäre wohl überwindlich, wenn
nicht in der näheren Vergangenheit, was wir auch an der Kunst bemerkten, das
französische Denken auf zweischneidige Weise radikal und verhärtet zugleich wäre.
Dadurch entstand jene sonderbare Einschränkung der Jdee Europas, die nicht über
das Heute, will sagen: den heutigen Zustand Frankreichs, hinausreicht. Und im
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Seurat hat diesen Alltag kritisch bezwungen, ein Zeichen daraus gemacht, das
allein uns so fremd vorkommt. Doch als solches, als Zeichen der trüben Elends--
grundlage und mechanisierten Kraftdummheit dieser ganzen Massenwelt, geht es
nun gegen uns an und ist dann gar nicht mehr fremd. Es ist unsere eigene, alltäglichste,
aber ganz in verschärfende Stil-Schatten übersetzte Welt, die uns aus diesem Bild
schon anfällt — als stammte es von den Surrealisten der Gegenwart.
DaS i/t der Blick auf die französifche Kunst, den diese Ausstellung ermöglichr. Bleibt
noch, daß wir die Säle mit Zeichnungen erwähnen. Manches Aufschlußreiche auch
hier. Aber die Auswahl war ohne erkennbaren Gesichtspunkt, noch mehr als bei
den Gemälden. Ein Glück, daß dank dem gleichen Zufall, der die Zusammenstellung
bestimmte, der Betrachter doch bisweilen auch ankommen konnte, und zwar nicht
vor vereinzelten Kunstwerken, wie es den meisten genügt, sondern in dem geistigen
Sinn ihrer Herkunft selbst.
Frankreich — das innerste Europa?
Geht man nach langem Betrachten wieder auf die Londoner Straßen, so wird ein
Nachklang sehr stark, der uns nie so berührt, wenn wir in Frankreich selbst sind. Es
ist dieses weich Verflossene, auch Matte, ja sogar Muffige, Verschlisfene und
Halbtonige der französischen Kunst. Die glatte, künstliche und zugleich wieder auf
eine laue Weife lebendige und pulsende Haut aller Dinge wundert uns in der Er-
innerung. Das weiche Wogen dämmriger Triebe und strenger Grenzen durchein-
ander erregt hier ein größeres Staunen als im Lande selbst.
Denn ringSum fällt das Gegenteil, das zunächst viel klarere Gegenteil auf, nämlich
das verstockt Geprägte der englischen Umgebung. Wenn hier die Grenzen einmal
zu strasf gezogen werden, so daß eine sonst wohl ausreichende Form zerplatzt, so
findet sich die Unordnung nicht in weichem Verschwimmen wieder zurecht. Sondern
dann zersetzt sich alles trübe, fahl und geronnen. DeShalb gab sich Hier die ita-
lienische Ausstellung leichter verwandt als die französische. Geht alles klar, so dringt
die italienische Form, wenn auch mager und trocken, gut in dieses Volk ein. Und
ein gewisses, leidendes Traumdämmern hat sich oft genug in den englischen Gefühls-
welten mit der dürren und hellen Verwesung verwandt gefühlt, die sich im iZ.
Iahrhundert in Jtalien mehrfach findet. ^sede dieser Näherungen verbleibt aller-
dings unter den Stufen, die Jtalien gewann.
Der AuSgleich, den Frankreich in einer ebenso verdächtigen wie unnachahmlichen
und bewundernswerten Ordnung des Unvereinbaren gefunden hat, eben in seinem
Vitalrationaliömus — das ist etwas, was in dieser Randgegend Europas noch mehr
als bei unS in Deutschland als fremd, unerringbar und doch immer wieder ver-
lockend, süß und wie ein leßtes Heilgift für das national zerrissene Europa auf uns
eindringt. Und zugleich, scheint mir, auch als Motto für den Beginn eines Europa,
das die Nationalstaalen (nicht das Volkhaft-Eigene) überwindet und selbst als
Ganzes ein großer „Nationalstaat" wird. Doch was in Frankreich als Europa
gilt, zeigt schon im Grundriß jenes merkwürdige, überlegen erschlichene Gleichgewicht,
aus dem auch Frankreich selbst und seine Kultur besteht. An die Jdee „Europa"
wird kaum anderswo so sehr gedacht, wie in Frankreich; aber zugleich ist die
wirkliche Erfassung EuropaS dadurch sehr behindert, daß es fast ausschließlich im
Bilde Frankreichs gesehen wird. Diese Schwierigkeit wäre wohl überwindlich, wenn
nicht in der näheren Vergangenheit, was wir auch an der Kunst bemerkten, das
französische Denken auf zweischneidige Weise radikal und verhärtet zugleich wäre.
Dadurch entstand jene sonderbare Einschränkung der Jdee Europas, die nicht über
das Heute, will sagen: den heutigen Zustand Frankreichs, hinausreicht. Und im
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