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Braus, Hermann
Anatomie des Menschen: ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte (Band 1): Bewegungsapparat — Berlin, Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.15149#0466

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Vergleich des Schulter- und Beckengürtels.

4.1.-,

biologischen Gegensatz, den es beim Schulterapparat nicht gibt, müssen wir
hier von vornherein scharf ins Auge fassen. Die Formen der aktiven und passiven
Einzelteile des Bewegungsapparates sind daraus zu verstehen.

Das Becken hat beim Menschen im Getriebe des lokomotorischen Anna- Beziehung
rates eine besondere statische Aufgabe, weil der Beckenring beim aufrechten zur Loko-
Stehen, Gehen und Sitzen die Last der oberen Körperhälfte aufnimmt und Jmu 'Gehirn
auf die Unterstützung — auf die Beine oder die Sitzunterlage - - überträgt.
Das Becken kann dies, da es ein fester geschlossener Ring ist. Daraus
folgt eine sehr merkwürdige Beziehung seiner Lichtung zu der dem Menschen
eigenen besonderen Größenentwicklung des Gehirns. Da der feste Becken-
ring die Beckenorgane und unter diesen die Gebärmutter beherbergt, so muß
er genügend weit sein, um bei der Geburt den Kopf des Kindes passieren zu
lassen. Vor der Geburt kann die Gebärmutter in die Bauchhöhle ausweichen
und während der Schwangerschaft durch Vortreiben der weichen Bauchdecken
fast beliebig viel Raum für die Entfaltung des Fötus gewinnen. Aber einmal
muß der kindliche Körper durch das Becken hindurch; dabei bietet die knöcherne
Schutzkapsel des Gehirns am meisten Widerstand, weil das Gehirn in seiner
Entwicklung und Größenentfaltung den anderen Organen voraus ist (siehe
Großhirn, Bd. III), und weil die Kopfknochen nur in ganz geringem Grad
gegeneinander verschieblich sind, da das Gehirn sonst geschädigt AVÜrde. Tritt
während des Gebäraktes ein Konflikt ein (Beckenverengerung der Mutter,
Schädel Vergrößerung des Kindes), so ist der Arzt genötigt, durch Zerstückelung
des Kindes das Leben der Mutter zu retten, faUs nicht durch den Kaiserschnitt
der Konfliktsfall' beseitigt werden kann. Man sieht aus diesen krankhaften
Fällen, wie abhängig die Lichtung des Beckens von der Größe des Kopfes des
geburtsreifen Kindes geworden ist.

Infolgedessen haften der Form des Beckens speziell beim Weibe ge- BeCQeen als
schlechtliche Merkmale an. Die Verfestigung des knöchernen Rahmens in sich schiechts-
sichert dem kindlichen Kopf adäquate feste Durchmesser des Kanals, den er zu mei
passieren hat. Das männliche Becken nimmt wohl im allgemeinen teil an den
Veränderungen, welche das weibliche Becken geräumiger werden lassen als
tierische Becken, ebenso wie andere weibliche Sexualcharaktere, z. B. Brust-
warzen, auf den Mann vererbt werden. Aber die Verschiedenheiten zwischen
Mann und Weib sind an keinem Teil des Bewegungsapparates annähernd so
deutlich wie am Becken. Das beruht auf der eigentümlichen biologischen
Doppelaufgabe, welche durch die Form dieses Körperteiles gelöst ist.

Bei den Amphibien und Reptilien tritt der Beckengürtel zuerst in der Tierreihe z^,hl der
mit der Wirbelsäule in Beziehung und zwar gelenkig. Hier ist nur ein Wirbel Träger wirbel
des Beckens und als solcher in den Aufhängeapparat der hinteren Extremität ein-
getreten. Bei den Vögeln, die nicht anders als auf zwei Beinen stehen können,
wird die Last stets auf zahlreiche Wirbel übertragen, welche untereinander und mit
dem Becken fest verwachsen sind (Kreuzwirbel). Bei Säugetieren, bei welchen außer
den Hinterbeinen auch die Vorderbeine die Körperlast tragen, ist die Zahl der Kreuz-
wirbel verschieden groß. Sie schwankt zwischen 2—6 Wirbeln, welche unterein-
ander verwachsen und mit dem Beckengürtel durch starke Bänder oder sogar knöchern
verbunden sind. Bei denjenigen Säugetieren, welche sich auf den Hinterbeinen
allein zu bewegen vermögen (Bär, Menschenaffen), und beim Menschen ist das tat-
sächliche Höchstmaß der Verankerung zwischen Wirbelsäule und Beckengürte]
erreicht. Die Beanspruchung des Beckens ist hier noch größer als bei Vögeln, weil
der Körperschwerpunkt bei letzteren unter der Drehachse des Beckens in den Hüft-
gelenken liegt, bei ersteren oberhalb der Drehachse, also im labilen Gleichgewicht
gehalten wird (S. 129). Der Antrieb der unteren Gliedmaßen wird um so unmittel-
barer auf die Wirbelsäule übertragen, je mehr diese in die Richtung der Beine zu
stehen kommt. Die Zahl der Kreuzwirbel ist nur annähernd ein gültiger Ausdruck
für das Maß der Beckenbefestigung, da Bandapparate widerstandsfähiger sein können
als Knochen. Der Mensch hat in der Norm 5 Sakralwirbel (über Variationen dieser
Zahl siehe S. 126).
 
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