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Braus, Hermann
Anatomie des Menschen: ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte (Band 1): Bewegungsapparat — Berlin, Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.15149#0012

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Einleitung.

A. Aufgabe der menschlichen Anatomie als Wissenschaft.

Die Anatomie leidet, wie man heute wohl sagen darf, an ihrem Xaraen Bioiogi-

sches Ziel

(von avatFi-iveiv = zergliedern). Was Rembrandt in seiner ..Anatomie'" dar-(nicht nur
stellte, war wohl der entscheidende Schritt vorwärts vom Mittelalter zur Neuzeit. „iiederunCT)
Denn die Zergliederung des menschlichen Körpers war und ist das wichtigste
Mittel, um statt • Vermutungen oder statt aus dem Altertum überkommener,
oft falsch verstandener und entstellter Kenntnisse die Wirklichkeit reden zu
lassen. Verdient so die Zergliederungskunst höchste Würdigung, so ist sie doch
im Rahmen des Ganzen nur Mittel, und zwar eines von vielen. Ihr klebt als
größter Nachteil an. daß sie nur am Toten anwendbar ist; die Zeiten sind vorbei,
in welchen der antike Forscher lebende Sklaven als Objekte der Zergliederung
forderte und erhielt (was in Alexandria geschah, z. B. bei Untersuchungen
über das Zwerchfell). Das Ziel der Anatomie mußte aber von jeher auf das
Leben gerichtet sein; sie ist ein Teil der Biologie. Denn der Mensch hat den
Wunsch über das Innere seines Körpers etwas zu erfahren, um zu begreifen,
wie das äußerlich Sichtbare durch das innerlich Verborgene bedingt sei. Von der
Neugierde des Primitiven bis zum geschulten Wissenstrieb des denkbar voll-
endeten Forschers ist das Ziel der Anatomie immer das gleiche: Die Form
des lebendigen Körpers zu verstehen. Es ist dies nur möglich, durch Auf-
lösung des Ganzen in seine Teile (Analyse) und Wiederaufbau des Ganzen aus
seinen Teilen (Synthese). Schiller hat diese Tätigkeit des Forschers mit den
ewig gültigen Worten umschrieben: „Was die Natur gebaut, bauet er wählend
ihr nach."

Auch bei dem Gewerbe des Schneiders ist durch den Namen, welcher nur
das auffälligste Mittel — Schneiden — hervorhebt, keineswegs das Ziel und die
Aufgabe angegeben oder gar erschöpft. Dem Kind, welches seine Puppe öffnet
und dem das Sägemehl des Inneren entgegenrinnt, wird, wenn es gescholten wird,
nicht selten zu seinem Schrecken noch Unrecht hinzugefügt; denn seine Absicht
war vielleicht statt Freude am Zerstören gerade jener Erkenntnistrieb, dessen pri-
mitivste Stufe die Neugierde ist; er war es, welcher die ersten Anatomen ermutigte.
Leichenöffnungen trotz Verbot und Grauen vor dem Toten vorzunehmen. Zwischen
Absicht und Mittel, zwischen Ziel und Name klaffen hier Klüfte, auf die wir weg-
leitend hinweisen.

Über die Stellung der Biologie unter den Wissenschaften sei auf das System
von Comte verwiesen, nach welchem sie sich einordnet zwischen Chemie und Physik
einerseits und Psychologie und Soziologie anderseits. Über andere biologische
Disziplinen neben der Anatomie siehe das Folgende.

Mit anderen biologischen Teilwissenschaften (Physiologie, Biochemie) l^'oder'
hat die Anatomie, die Formenlehre des Lebenden, von vornherein gemein, daß kausale Be
sie Ursachenforschung ist: Wir treten mit einem bestimmten, der mensch- Disposition
liehen Psyche eingeborenen Drang nach ursächlicher Erkenntnis an unseren
eigenen Körper heran. Es gibt in der Naturwissenschaft noch eine andere
Betrachtungsweise; bei ihr sind die kausalen Bedürfnisse des Betrachters nur

Braus, Lehrbuch der Anatomie. I. 1
 
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