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Braus, Hermann
Anatomie des Menschen: ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte (Band 1): Bewegungsapparat — Berlin, Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.15149#0813

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802

Kopf.

Lidrand (resjD. innere Augenwinkel) und die Mundspalte liegen an der Grenze
zwischen oberem und mittlerem Drittel eines jeden der 4 kleinen Quadrate. Ein
jeder Kanon gibt jedoch nur einen ganz annähernden Anhalt für die natürlichen
Maße; denn es variiert das Gesichtsskelett und damit die Proportion des Ge-
sichtes noch stärker, als die Maße des Schädeldaches individuell schwanken.
Will man exakte Maße haben, so muß man am Knochen messen, weil vor allem
die größte Jochbogenbreite des Gesichtes wegen der verschieden dicken Fett-
auflagerung beim Lebenden zu sehr schwankt. Sie entspricht etwa dem Abstand
der Seiten des Schadowsehen Hauptquadrates. Die Gesichtshöhe, d. h.
die Entfernung der Nasenwurzel (Nasion) vom unteren Rand des Unterkiefers
(Gnathion) läßt sich in Prozenten der größten Jochbogenbreite am Schädel aus-
diücken. Man nennt dieses Maß den morphologischen Gesichtsindex
und bezeichnet als mesoprosop solche Gesichter, bei welchen der Index zwischen
84 und 88% schwankt. Steigt er über 88, so heißt das Gesicht leptoprosop
(Langgesicht; bei mehr als 93% Hyperleptoprosop); sinkt die Ziffer unter

84%, so nennt man das Gesicht euryprosop (Breit-
gesicht; bei weniger als 79% hypereuryprosop).

Die meisten Rassen haben mehr breite als hohe
Gesichter. Deshalb wird die größte Jochbogenbreite als
G-rundmaß angenommen und die Gesichtshöhe in Pro-
zenten der Breite ausgedrückt. Bei den Durchschnitts-
zahlen, welche große Statistiken ergeben, liegen die mitt-
leren Zahlen erfahrungsgemäß zwischen 84 und 88%.
Deshalb ist dieser Index mesoprosop genannt worden.
In Baden beträgt der Durchschnittsindex 85,8% beim
Mann, 79,3% bei der Frau. Einzelne Individuen haben
viel längere Gesichtsformen, doch verschwinden diese
Typen in der Masse großer Statistiken, weil sie seltener
sind. Dem ScHADOWschen Kanon liegt ein hyperlepto-
prosoper Schädel zugrunde.
Abb. 390. G.esichtskanon Bei Kunstwerken der antiken griechischen Plastik

von G. Schadow. fand man, daß der Gesichtsindex um fast doppelt so

große Zahlen schwankt als die wirklichen Zahlen, welche
an Menschen selbst gemessen wurden. Der Fachmann kann nach dem Gesichtsindex
einer Statue nicht nur sagen, aus welchem Jahrhundert, sondern sogar aus welchem
Dezennium des 4. und 5. Jahrhunderts v. Chr. sie stammt, weil man in jener Zeit
immer wieder andere Stile erfand, um die Gesichtsproportionen in Beziehung zur
Körperproportion zu setzen, und weil alle Plastiker an dem gerade üblichen Stil
wie an einer Mode festhielten, bis ein Neuerer eine andere ihm zusagendere Pro-
portion durchsetzte. Das ist ein schönes Beispiel für die souveräne Freiheit, mit
welcher sich der klassische Künstler von der Wirklichkeit entfernte um seiner Idee
des Schönen willen. Die Kunst aller Zeiten hat gewisse Proportionen bevorzugt,
die — wie in der griechischen Kunst ■— für das Stilgefühl ihrer Periode sehr charak-
teristisch sind. Das gilt für die Körperproportionen überhaupt, vor allem aber für
das Gesicht, welches natürlicherweise ein Lieblingsobjekt der darstellenden Kunst ist.

Die Breitenmaße des Gesichtes schwanken weniger als die Höhenmaße. Wahr-
scheinlich deshalb, weil in ihnen das Auge zweimal gerechnet ist. Die Größe des Aug-
apfels scheint relativ konstant zu sein, und davon die relative Konstanz der Größe
des Orbitaleingangs abzuhängen. In der Höhe des Gesichtes wird das Auge jedoch
nur einmal gerechnet, dazu die Höhe der Nase und die Höhe der Kiefer, beides Maße,
welche viel variabler sind als die Orbitalmaße. Die Kiefermaße geben den Ausschlag.

Bei gleichem Gesichtsindex zweier Schädel kann die zugrunde liegende Form
sehr verschieden sein. Ein Breitgesicht kann z. B. durch geringe Gesichtshöhe bei
mittlerer Jochbogenbreite oder durch starke Jochbogenbreite bei mittlerer Gesichts-
höhe bedingt sein. Das erstere finden wir bei unseren Alpenvölkern, das letztere
bei mongolischen Rassen. Die Indexzahlen orientieren nur wie Bezeichnungen
der Blattform in der Botanik, sagen aber Näheres über die Form und ihre Ursachen
nicht aus (S. 799). Die Beziehung der Gesichtsproportionen zu den Proportionen
des Gesamtkopfes ist außerordentlich schwankend. Gesetzmäßigkeiten sind hier
noch nicht sicher erwiesen. Bekannt ist jedoch, daß die Größe des Kinns von
der inneren Sekretion der Hypophysis abhängig ist (Bd. III). Wenigstens tritt
bei Wachstumsstörungen der Drüse die eigenartige ,,Spitzen"krankheit (Akro-
 
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