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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 7.1891-1892

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Pecht, Friedrich: Zum Beginn des neuen Jahrgangs
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https://doi.org/10.11588/diglit.10735#0012

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ZUM Beginn des neuen Jahrgangs

Überlegenheit des Fremden, sondern lediglich infolge der trostlosen Schwäche des nationalen Geistes bei
uns, und unsrer merkwürdigen Unfähigkeit, dem Reiz des Neuen und Überraschenden zu widerstehen. — So
begegnet man auch der auffallenden Thatsache, daß alle Völker in unsrer Ausstellung ihre nationale Eigenart
schärfer aussprechen als wir, daß vorab die Engländer, aber auch die Italiener, Spanier, Holländer, Belgier,
Dänen, weit mehr Charakter zeigen, als die angeblich in Europa maßgebenden Germanen. Eine ähnliche Er-
scheinung bieten allerdings auch die Franzosen, dort freilich nur infolge der großen Menge in Paris wohnender
fremden Künstler, durch welche die französische Kunst einen kosmopolitischen Charakter erhält. Nur mit dem
Unterschied freilich, daß dort jedem Fremden bald das Pariser, wenn auch nicht das französische, Cachet auf-
gedrückt wird, während ähnliches weder in München und noch viel weniger in Berlin zu finden. Ist nun
diese Wut der Nachahmung, die dermal einen großen Teil unsrer jüngeren Künstler beherrscht, etwa Folge angeborenen
Mangels an schöpferischer Kraft oder bloße Charakterschwäche? Glücklicherweise lehrt jede Vergleichung der in den
deutschen Sälen enthaltenen Kunstwerke mit den fremden, daß im Gegenteil keine andre Nation eine so große Zahl ganz
verschiedener und dabei so eigenartiger und durchaus selbständiger Talente besitzt, als die unsrige, so daß man
das Gesamturteil dahin zusammenfassen muß, daß wir mehr hochbegabte Individualitäten, aber weniger ge-
meinsame Züge besitzen als alle andern Völker. — Unsre Sache steht demnach durchaus nicht so trostlos, als
man im ersten Schrecken meinen sollte, wenn wir uns nur erst endlich dazu ermannen könnten, in unserm
eigenen Hause die Herren und nicht die Bedienten zu spielen, unsre Ausstellungen aber zum Besten unsrer
eigenen Kunst, statt zu dem der fremden, oder wohl gar nach den Bedürfnissen der leitenden Kunsthändler, ja der
Wirte und Droschkenkutscher einzurichten. So wie sie sich jetzt herausgebildet haben, zu Unternehmungen rein
merkantilen Charakters, zu Werkzeugen des fremden Einflusses in Deutschland, so dürfen sie unter keinen Um-
ständen bleiben, wenn sie nicht unsrer eigenen Knust den schwersten Schaden zufügen sollen, während sie doch
zu deren Förderung geschaffen wurden.

Sieht man sich nun die idealen Ergebnisse der letzten Jahre im einzelnen an, so fällt einem zunächst
auf, daß bis jetzt weder bei uns, noch bei den Fremden ein Talent ersten Ranges anfgetaucht ist. Wir müssen
sehen, daß wie bei uns die Menzel, A. v. Werner, Böcklin, Lenbach, Defregger, Löfftz, F. A. Kaulbach,
F. Keller, Kirchbach noch immer an der Spitze stehen, so auch in Frankreich die Meissonier, Bonnat, Neuville,
Corot, Troyon, Daubigny, Bastien-Lepage, Bouguereau u. s. w. noch keine gleichwertigen Nachfolger gefunden
haben. Um so sicherer ist, daß sich der spezifisch französische Naturalismus, bei uns nicht weniger als in Frank-
reich selber, beinahe ausgelebt hat, genau wie die Graumalerei. Was an beiden berechtigt war, ist ins
allgemeine Bewußtsein übergegangen, denn fast kein Künstler bei uns ist ganz unberührt davon geblieben. —
Desgleichen erscheint die Proletariatsmalerei ziemlich überwunden, weil sie der scharfen Charakteristik ebenso un-
günstig sich erwies, als der Herausbildung interessanter Individualitäten, von denen beiden doch jede gesunde
Kunst leben muß. — Ilm so glänzender haben sich die Künstler bewährt, die ihre Bildung bei den großen
Meistern der Renaissance geholt, wie die Lenbach, Böcklin, Leibl, F. A. Kaulbach, Max, Holmberg, Baisch,
Schönleber w. Daß es mit der kosmopolitischen, d. h. jedes nationalen Charakters entbehrenden Kunst aber
vollends nichts sei, das haben die Franzosen nicht weniger deutlich gezeigt, als die Deutschen, alle unsre jungen
und jüngsten Talente, auf denen die Zukunft unsrer Kunst beruht, die Simm, Marr, Pötzelberger, Theodor-
Schmidt, Kubierschky, Allcrs, mit einziger Ausnahme des begabten Block, haben diesen Charakter in hohem
Grade, und selbst der letztere bildet sich offenbar nach dieser Seite hin weiter. Da nun alle andern Nationen
sich ebenfalls in dieser Richtung einer schärferen Ausprägung der nationalen Eigenart bewegen, so braucht
man die Hoffnung auf den Sieg der echten Kunst bei uns noch lange nicht aufzugeben.

Fragt man nun aber, was ist denn die deutsche Eigenart in der Kunst, so wissen wir keine andre
Antwort als: die Sorgfalt, mit der sie das Kleine wie das Große, das Nebensächliche wie das Wichtige be-
rücksichtigt und durchbildet, jene entzückende Liebe und oft pedantische aber immer rührende und erwärmende
Innigkeit, die sich von keinem Grashalm trennen kann, dabei ein männlicher Ernst, der uns immer
ergreift, ja erhebt, gleichviel ob man ihn in den alten Miniaturen, den Figuren des Meisters Stephan oder
Martin Schongauer, wie den Stichen Dürers, in den Gewändern Holbeins, wie den Zeichnungen Ludwig
Richters, Menzels oder Schwinds, ja in den Bildern Pilotys und seiner Schüler wiederfindet. Es ist diese
Vereinigung von Liebe und tiefem Ernst, für die es in der Natur kein Klein und kein Groß, kein Wichtig
oder Unwichtig gibt, und die man ähnlich nur noch in den Werken der italienischen Frührenaissance findet,
wie man ihr jetzt wieder in denen einer ganzen Anzahl unsrer allerjüngsten Künstler begegnet. Sie ist also
der unmittelbarste und echteste Ausdruck unsres nationalen Wesens, weil sich diese ganz eigenartige Vereinigung
von das Kleinste umfassender Sorgfalt und Innigkeit mit stolzer Kraft sonst bei keiner andern Nation, bei
uns aber nicht nur in den bildenden Künsten, sondern ebenso bei unfern großen Dichtern und Musikern, ja
selbst vielleicht am ausfallendsten bei unfern großen Herrschern, Kriegern und Staatsmännern — man denke
nur an Karl oder Friedricki den Großen, an Kaiser Wilhelm und Bismarck — wiederfindet. Wie ein Dürer
in stinem Selbstbildnis jedes Haar in seinen Locken, ja das Fensterkreuz des Nachbarhauses in seinen Augen
 
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