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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 7.1891-1892

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Hirth, Georg: Die Vererbung des Talentes und Genies, [3]
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Unsre Bilder
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https://doi.org/10.11588/diglit.10735#0258

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Die Vererbung des Talentes und Genies, von vr. Georg Hirth — Unsre Bilder

Frauen der alten Künstler (welche wohl so wenig wie
andere Leute nach „Talent" geheiratet haben!) wissen
wir meistens sehr wenig, und das wäre gerade das
Wichtigste zur Beantwortung der Frage, warum das
produktive Talent selten über das dritte Glied hinaus
vererbt bezw. bethätigt wurde.*) Ich sage ausdrücklich
das „produktive" Talent; denn das ruhende, schlummernde,
„latente" Talent kann ja durch Generationen weiter-
vererbt werden, bis es ganz unverhofft bei einem Spröß-
ling der weiblichen Linie wieder zum Durchbruch kommt.

Dennoch gibt uns der Nachweis so vieler Künstler-
familien einige interessante Aufschlüsse. Zunächst ist es
doch sehr auffallend, daß die Niederlande eine größere
Anzahl solcher Familien aufweisen, als alle anderen
Länder zusammengenommen. In Flandern aber ist es
namentlich Antwerpen, in Holland sind es Harlem,
Amsterdam und Leyden, welche durch Kunstvererbuugen
sich auszeichnen. Nun tritt jedoch diese Erscheinung in
größerem Umfange nachweislich erst im Laufe des 16. Jahr-
hunderts auf, um im 17. Jahrhundert ihre Höhe zu
erreichen. Kein Mensch wird behaupten wollen, daß vor-
und nachher die „Vererblichkeit" des Talentes in jenen
Ländern bezw. Orten eine geringere, oder gar, daß vor-
und nachher zahlreiche Talente überhaupt nicht „vorhanden"
gewesen seien. Das Entstehen und Vergehen von Kunst-
emporien hängt wohl vielmehr von äußeren Umständen,
(Wohlhabenheit, Verkehr, zufälligen Anregungen durch
große Künstler und Mäcene re.) ab; in Holland speziell
war es der konservative, behäbig-häusliche, natürliche
Sinn eines reichen Bürgertums, der durch Jahrhunderte
zahllosen Talenten eine sichere Stütze gab. Wie die
Nachfrage, so war aber auch die Produktion hier eine
durchaus gesunde; Holland war und blieb beharrlich
das Land der sp ezifischen Kunst, hier war das Studium
und die Wiedergabe der Natur Hauptsache. In diesem
Verhältnis von Nachfrage und Angebot, welche aller-

*) Ri bot (Erblichkeit S. 330) sagt: „Es ist klar, daß ein
Sohn ebensowohl seiner mittelmäßigen Mutter wie seinem be-
rühmten Vater gleichen kann; und daß er auch bei der Aussicht,
sich in die Eigenschaften beider Ellern teilen zu können, in der
Regel zwei Wahrscheinlichkeiten gegen eine hat, dem Vater,
welchem er entsprungen ist, untergeordnet zu sein."

dings ihre tiefere Begründung im Volkscharakter haben,
sodann in dem beschaulichen, wenig aufregenden Leben
der holländischen Städte ist wohl die Erscheinung so
vieler Künstlerfamilien hauptsächlich zu suchen. Ähnliche
Verhältnisse haben das Erblühen einer nationalen Kunst
in England bewirkt, wovon schon oben die Rede war.

Nach alledem haben wir, wie ich glaube, kein Recht,
die Nichtwiederholung eines glänzenden künstlerischen
Talentes oder Genies (Merksystemes) in den Nachkommen
ohne weiteres als Zeichen von „Degeneration", oder
auch nur als Unterbrechung des physophysischen Fort-
schrittes der „Art" anznsprechen. In der Mehrzahl solcher
Fälle können wir nicht einmal bestimmt sagen, ob die
Vererbung der beteiligten Grundgedächtnisse wirklich eine
so mangelhafte war, daß nicht unter günstigen Beding-
ungen doch eine Wiederholung des väterlichen Talentes
möglich gewesen wäre.

Der Versuchung, den Verfall großer Kunst-
kulturen (z. B. der griechischen) und den moralischen
Rückgang ganzer Völker ans den physiologischen Be-
dingungen der Vererbung zu erklären, muß ich hier
widerstehen, obschon die von mir empfohlene und eiuge-
schlagene Methode: bei allen Vererbungsfragen sorgfältig
zwischen angeborenen Grundgedächtnissen und er-
worbenen Merksystemen zu unterscheiden, auch der
Völkerpsychologie neue und richtige Beleuchtungen
verspricht. Der Verfall höherer, insbesondere künstler-
ischer Merksysteme kann sich auf ein ganzes Volk oder
Staatswesen erstrecken, ohne daß die Grundgedächtnisse
verschwunden sind, welche die qu. Merksysteme früher
ermöglicht hatten. Das mag ein Trost sein für alle,
die an der Zukunft ihres heruntergekommenen Volkes
nicht verzweifeln wollen; aber sie dürfen auch nicht ver-
gessen, daß die Wiederholung verloren gegangener Merk-
systeme (Tugenden, Künste, Wissenschaften) in einem
ganzen Volke nicht allein mehr Zeit, sondern auch größere
Anstrengungen erfordert, als im einzelnen Menschen und
in der einzelnen Familie. Am schwersten ist es bei den
Tugenden, da hier das Beispiel noch mehr wirkt als die
Lehre. Für die Lehre gibt es Schulen, Bücher und
Zeitungen; woher aber das Beispiel nehmen?

Unsre Bilder

vom Herausgeber

ns mit ein Paar Figuren den Charakter einer ganzen
Zeitepoche so lebendig darzustellen, daß man darauf
schwören möchte, sie habe genau so ausgesehen, das ist
ein seltenes Talent auch unter den besten Künstlern.
Um so mehr, wenn man es wie Diez versteht, uns die
verschiedensten, Jahrhunderte auseinanderliegenden Perio-
den mit solcher Lebendigkeit vorzuführen, daß man alle-
male meint, der Maler müsse notwendig Augenzeuge des
geschilderten Vorganges gewesen sein, alle handelnden
Personen zum mindesten gekannt haben. Das ist nun
ganz besonders bei dem „Auf der Flucht" getauften Vorgänge
der Fall, wo der Meister uns einige Marodeure aus der
späteren Zeit des dreißigjährigen Krieges schildert, die,
verjagt von den Bauern des Dorfes, wo sie wahrschein-
lich geplündert, glücklich den Strom durchschwommen

haben, der sie vor ihren Verfolgern rettet, bis auf einen,
den ihre Kugeln aus dem Sattel geworfen und der im
Wasser sich noch an dem letzten Kameraden anklammert,
um seinen sich bäumenden Schecken wieder zu erreichen,
während die zwei vordersten schon den steilen Uferrand
mit ihren Rossen erklimmen. Unübertrefflich ist da be-
sonders der erste, ein Schlingel, bei dem man gleich
an den „langen Peter von Itzehoe" denkt, etwa einen
Holkschen Reiter oder Butlerschen Dragoner, während die
andern ehemalige Pappenheimsche Kürassiere scheinen, die
sich alle miteinander aufs marodieren gelegt. Der lange
Peter aber, dem eine Kugel schon den Helm weggerissen,
scheint eben die unangenehme Entdeckung zu machen,
daß auf dieser Seite des Flusses auch noch Gegner
seiner harren, da er sich bereits schußfertig macht.
 
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