das Deklinierbuch, das Nechenbuch, wie das Geographiebuch, die biblische
Geschichte und die weltlicheu Lesebiicher; auch besaß sie einige der hübschen
Gcschichten von Christoph Schmid und dessen kleine Erzählungen mit den
artigen Sprnchversen am Ende, wenigstens ein halbes Dutzend verschiedene
Schatzkästlein. und Nosengärtchen zum Aufschlagen, eine Sammlung Kalender
voll bewährter mannigfacher Erfahrung und Weisheit, einige merkwürdige
Prophezeinngen, eine Anleitung zum Kartenschlagen, ein Erbauungsbuch
anf alle Tage des Jahres für denkende Jungfrauen und ein altes Exemplar
von Schillers Räubern, welches sie so oft las, als fie glaubte es genugsam
vergessen zu haben, und jedesmal wurde sie von neuem gerührt, hielt aber
sehr verständige und sichtende Reden darüber. Alles, was in diesen Büchern
stand, hatte sie auch im Kopfe und wußte auf das Schönste darüber nnd
über noch viel mehr zu sprechen. Wenn sie zufrieden und nicht zu sehr
beschäftigt war, fo ertönten unaufhörliche Reden aus ihrem Munde, und alle
Dinge wußte sie heimzuweisen und zu beurteilen, und jung und alt, hoch
und niedrig, gelehrt und ungelehrt mußte von ihr lernen und sich ihrem
Urteile unterziehen, wenn sie lächelnd oder sinnig erst ein Weilchen auf-
gemerkt hatte, worum es sich handle; sie sprach zuweilen so viel und fo
salbnngsvoll, wie eine gelehrte Blinde, die nichts von der Welt sieht und
deren einziger Gcnuß ist, sich selbst reden zu hören. Von der Stadtschule
her und aus dem Konfirmationsnnterrichte hatte sie die Uebung nnunter-
brochen beibehalten, Aufsätze und geistliche Memorierungen und allerhand
sprnchweise Schemata zu schreiben, und so verfertigte sie zuweilcn an stillen
Sonntagen die wunderbarsten Aufsätze, indem sie an irgend einen wohl-
klingenden Titel, den sie gehört oder gelesen, die sonderbarsten und un-
sinnigstcn Sätze anreihte, ganze Bogen voll, wie sie ihrem seltsamen Gehirn
entsprangen, wie z. B. über das Nutzbringende eines Krankenbettes, über
den Tod, über die Heilsamkeit des Entsagens, über die Größe der sicht-
baren Welt und das Geheimnisvolle der unsichtbaren, über das Landleben
und dessen Freuden, über die Natnr, über die Trüume, über die Liebe,
einiges über das Erlösungswerk Christi, drei Punkte über die Selbstgerechtig-
keit, Gedanken über die Unsterblichkeit. Sie las ihren Freunden und An-
betern diese Arbeiten laut vor, und wem sie recht wohlwollte, dem schenkte
sie einen oder zwei solcher Aufsätze, und der mußte sie in die Bibel legen,
wenn er eine hatte. Diese ihre geistige Seite hatte ihr einst die tiefe und
aufrichtige Neigung eines jungen Buchbindergesellen zugezogen, welcher alle
Bücher las, die er einband, und ein strebsamer, gefühlvoller und unerfah-
rener Mensch war. Wenn er sein Waschbündel zu Züsis Mutter brachte,
dünkte er im Himmel zu sein, so wohl gefiel es ihm, solche herrliche Neden zu
hören, die er sich selbst schon so oft idealisch gedacht, aber nicht auszustoßen
getraut hatte. Schüchtern und ehrerbietig näherte er sich der abwechselnd
strengen und beredten Jungfrau, und sie gewährte ihm ihren Umgang und
band ihn an sich während eines Jahres, aber nicht ohne ihn ganz in den
Schranken klarer Hoffnnngslosigkeit zu halten, die sie mit sanfter, aber
unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da er neun Jahre jünger war als
sie, arm wie eine Maus und ungeschickt zum Erwerb, der sür einen Buch-
binder in Seldwyla ohnehin nicht erheblich war, weil die Leute da nicht
lasen und wenig Bücher binden ließen, so verbarg sie sich keinen Augenblick
die Nnmöglichkeit einer Vereinigung und suchte nur seinen Geist auf alle
Weise an ihrer eigenen Entsagungsfähigkeit heranzubilden und in einer
l. Märzheft l905 78^
Geschichte und die weltlicheu Lesebiicher; auch besaß sie einige der hübschen
Gcschichten von Christoph Schmid und dessen kleine Erzählungen mit den
artigen Sprnchversen am Ende, wenigstens ein halbes Dutzend verschiedene
Schatzkästlein. und Nosengärtchen zum Aufschlagen, eine Sammlung Kalender
voll bewährter mannigfacher Erfahrung und Weisheit, einige merkwürdige
Prophezeinngen, eine Anleitung zum Kartenschlagen, ein Erbauungsbuch
anf alle Tage des Jahres für denkende Jungfrauen und ein altes Exemplar
von Schillers Räubern, welches sie so oft las, als fie glaubte es genugsam
vergessen zu haben, und jedesmal wurde sie von neuem gerührt, hielt aber
sehr verständige und sichtende Reden darüber. Alles, was in diesen Büchern
stand, hatte sie auch im Kopfe und wußte auf das Schönste darüber nnd
über noch viel mehr zu sprechen. Wenn sie zufrieden und nicht zu sehr
beschäftigt war, fo ertönten unaufhörliche Reden aus ihrem Munde, und alle
Dinge wußte sie heimzuweisen und zu beurteilen, und jung und alt, hoch
und niedrig, gelehrt und ungelehrt mußte von ihr lernen und sich ihrem
Urteile unterziehen, wenn sie lächelnd oder sinnig erst ein Weilchen auf-
gemerkt hatte, worum es sich handle; sie sprach zuweilen so viel und fo
salbnngsvoll, wie eine gelehrte Blinde, die nichts von der Welt sieht und
deren einziger Gcnuß ist, sich selbst reden zu hören. Von der Stadtschule
her und aus dem Konfirmationsnnterrichte hatte sie die Uebung nnunter-
brochen beibehalten, Aufsätze und geistliche Memorierungen und allerhand
sprnchweise Schemata zu schreiben, und so verfertigte sie zuweilcn an stillen
Sonntagen die wunderbarsten Aufsätze, indem sie an irgend einen wohl-
klingenden Titel, den sie gehört oder gelesen, die sonderbarsten und un-
sinnigstcn Sätze anreihte, ganze Bogen voll, wie sie ihrem seltsamen Gehirn
entsprangen, wie z. B. über das Nutzbringende eines Krankenbettes, über
den Tod, über die Heilsamkeit des Entsagens, über die Größe der sicht-
baren Welt und das Geheimnisvolle der unsichtbaren, über das Landleben
und dessen Freuden, über die Natnr, über die Trüume, über die Liebe,
einiges über das Erlösungswerk Christi, drei Punkte über die Selbstgerechtig-
keit, Gedanken über die Unsterblichkeit. Sie las ihren Freunden und An-
betern diese Arbeiten laut vor, und wem sie recht wohlwollte, dem schenkte
sie einen oder zwei solcher Aufsätze, und der mußte sie in die Bibel legen,
wenn er eine hatte. Diese ihre geistige Seite hatte ihr einst die tiefe und
aufrichtige Neigung eines jungen Buchbindergesellen zugezogen, welcher alle
Bücher las, die er einband, und ein strebsamer, gefühlvoller und unerfah-
rener Mensch war. Wenn er sein Waschbündel zu Züsis Mutter brachte,
dünkte er im Himmel zu sein, so wohl gefiel es ihm, solche herrliche Neden zu
hören, die er sich selbst schon so oft idealisch gedacht, aber nicht auszustoßen
getraut hatte. Schüchtern und ehrerbietig näherte er sich der abwechselnd
strengen und beredten Jungfrau, und sie gewährte ihm ihren Umgang und
band ihn an sich während eines Jahres, aber nicht ohne ihn ganz in den
Schranken klarer Hoffnnngslosigkeit zu halten, die sie mit sanfter, aber
unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da er neun Jahre jünger war als
sie, arm wie eine Maus und ungeschickt zum Erwerb, der sür einen Buch-
binder in Seldwyla ohnehin nicht erheblich war, weil die Leute da nicht
lasen und wenig Bücher binden ließen, so verbarg sie sich keinen Augenblick
die Nnmöglichkeit einer Vereinigung und suchte nur seinen Geist auf alle
Weise an ihrer eigenen Entsagungsfähigkeit heranzubilden und in einer
l. Märzheft l905 78^