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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 3 (Dezemberheft 1931)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0244

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stand wünschen nnd erstreben oder nicht,
ob roir gegen internationale blnvernnnst
wettern oder nicht, all das bleibt sür die
Lösung wirtschastlicher Gegen-
wartsaufgaben völlig gleich-
g ü l t i g.

Als Reaktion gegen dieses System er-
solgte nun eine völlige Äbkehr von chl-
chen Abstraktionen, man glaubte ohne jede
Theorie auskommen zu können. Man
wollte die wirkliche Wirtschaft
untersuchen und stürzte sich mit wahrem
Feuereifer auf daS Tatsachenmaterial,
daö nun insbesondere in Amerika mit klug
ausgedachten statistischen Methoden durch-
wühlt wurde. Mit voraussetzungsloser
Kindlichkeit zerlegte man statistische Wirt-
schaftsreihen nach kunstvollen mathemati-
schen Regeln und wollte so zu einer Wirt-
schaftsprognose vorstoßen. Man braucht
keine wirtschaftlichen Gesetze mehr, stati-
stiscb festgestellte Regelmäßigkeiten genüg-
ten, es genügte vor allem, daß, wenn man
wirklich für einen Zeitabschnitt auffallende
Regelmäßigkeiten festgestellt hatte, man
sich für berechtigt hielt, durch willkürliche
Extrapolation diese Regelmäßigkeiten ein-
fach auf die Zukunft zu übertragen. Qua-
lität wurde ersetzt durch Quantität. Diese
Massenfabrikation pseudowissenschaftli-
cher Ergebnisse fand aber durch das Der-
sagen der Dorhersagen, wenn auch nicht
ihr Ende, so doch eine bedeutende Ein-
schränkung und Abkehr von diesen Me-
thoden.

Fernab von Streit um Schulen und Me-
thoden hat sich eine Richtung der Volks-
wirtfchaftslehre entwickelt, die man viel-
leicht mit „realistischer Theorie" umreö-
ßen kann und der die in Amerika ent-
wickelte „synthetische Dkonomie" nahe-
steht. Sie versucht den wirklichen G e -
fchehnisablauf ursächlich zu erklä-
ren. Sie stellt in den Vordergrund die
Beantwortung von Fragen, die den Prak-
tiker — nicht nur den privatwirtschaftli-
chen, sondern den praktischen Volkswirt
und den Politiker — interessieren, und
diese Fragen sind nicht, wie ein Wirt-
schaftsprozeß verlaufen wäre, wenn keine
äußeren Störungen entstanden wären,
sondern den Praktiker interessiert, wie er
fich unter den gegebenen Ver-
hältnissen tatsächlich gestaltet und
gestalten wird. Es besteht kein Zweifel,
daß in der gegenwärtigen Situation
außerwirtschaftliche Faktoren
den Ausschlag geben und damit die Lö-

sung der wirtschaftlichen Probleme in un-
erhörtem Grade erschweren. Diese reali-
stische Theorie versucht wirtschaftliche Ka-
tegorien herauSzuarbeiten, die nicht blut-
leereAbstraktionen sind, sondern die dem
Wirtschaftsleben selbst möglichst nahe-
kommen. Sie arbeitet aber insbesondere
auch an der Aufhellung deS Tatsachen-
materials. Daher spielt die Diagnose eine
große Nolle. Denn je besser die diagno-
stischen Mittel sind, um so eher ist es
auch möglich, zu der Frage, die alle an-
geht: „Wie geht es weiter?" Stellung
nehmen zu können. Zu diesen moöernen
Mitteln gehören heute die fein ausgebil-
deten mathematischen Methoden (die von
der sogenannten russischen Schule ausge?
arbeitet sind und nicht mit den oben ge-
kennzeichneten mathematischen Experimen-
ten der Amerikaner verwechselt werden
sollen), welche die Analyse von Wirt-
schaftskurven ermöglichen, so daß es ge-
lingt, Veränderungen aufzuzeigen, öie
sonst verborgen bleiben. Man kann diese
Art der Untersuchung etwa mit der Lei-
stung deS Mikroskops gegenüber dem
menschlichen Auge vergleichen. Jmmer-
hin, man muß sich klar sein, daß eine
wirtschaftliche Prognose im exakten
Sinn nach dem heutigen Stand der For-
schung unmöglich ist. Es ist daher auch
nicht Aufgabe der großen Konjunkturfor-
schungS-Jnstitute der einzelnen Länder,
etwa Wirtschaftsprophetie zu treiben,
sondern das Feld ihrer Tätigkeit ist die
genaue Darstellung der jeweiligen Wirt-
schaftslage. Da jeöe Vorhersage immer
eine gewisse Stetigkeit der Entwicklung
voraussetzt, ist wohl deutlich, daß bei dec
heutigen Situation der gesamten Wirt-
schaft eine solche nicht in Betracht kommt,
herrscht ja wohl in wissenschaftlichen und
praktischen Kreisen jedenfalls soweit Über-
einstimmung, daß es fich derzeit nicht
mehr nur um eine konjunkturelle Depres-
sion im Sinne eines Nhythmus' von Tief-
stand und Aufstieg handelt, sondern daß
die Krisis im wesentlichen strukturellen
Charakter trägt.

Die Wirtschaftsforschung bietet also in
bisher nicht gekanntem Maße exakt
durchgearbeitetes Tatsachenmaterial, sie
vermittelt einige lapidare Sätze, gegen
deren Jnhalte keine Wirtschaftsform ver-
stoßen kann. Sie zeigt die volkswirt-
schaftlichen Kosten eines Wirt-
schaftsexperimentes. Die Rechtfertigung
des EinsatzeS derselben, das genaue Ab-

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