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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0330

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Häusermassen und den berühmken Kirchenkuppeln, in der frühen N"achmitLags-
sonne: Moskau.

Man fährt durch die VorstadL und fühlt sofort: zwischen diesem MiLLag und
der gestrigen MitternachL ist unendlich mehr als der Abstand von sieben Flug-
slunden. Fast will mir scheinen: mehr als der Abstand von drei Wochen
zur See.

-i-

Ich suche nach einem verwandken Eindruck, nach einer Erinnerung, um mich
zurechtzufinden. Schon diese reich erfüllten Flugstunden hindurch suchke ich:
wo hast du das schon gesehen? Dieses halb genutzke, halb menschenleere
Land, dieses Land mit dem Reiz des Urtümlichen zwischen Dörfern nnd
Äckern, mit der Nckelancholie der dem Menschen immer wieder entgleitenden
Weite? Diese Häuser, die verwahrlost zwischen schmncken Gebäuden stan-
den, diese Gärten und Felder, die immer wieder in Wüstenei zurücksanken?
All diese Spuren von Menschenhand, die immer wieder verblaßten, über-
wuchert wurden von den Iahreszeiten und ihrem Walten; einer mächtigen
und doch vor der Fülle und Weite des Landes immer wieder ermattenden
Menschenhand? Dann wußte ichs plötzlich: ich stand in ebensolcher Herbst-
sonne aus einem Kirchturm in Luzk, und durch unendliche Nkiederungen, deren
Pflanzenwuchs wie grünlich-brauner Samt schimmerte, krochen naturhaft,
verschwindend in der Ferne, wie ein Riesenwurm, unendliche Kolonnen — der
unsichtbaren, in den Qsten strebenden Front zu. 2luf diese Front war gleichsam
alles Land bis zum Horizont bezogen. Und plötzlich ist mir, als wäre alles
Land, das ich seit Stunden nnter mir sah, als wäre auch diese Stadt ver-
bunden mit einer unsichtbaren vorwärtsstrebenden Front im Osten; mit
einem in eine offene Weite drängenden Vormarsch, der allem hier Sichtbaren
ersi einen Sinn gab. Einen Sinn, der hinter diesen verwahrlosten Häusern
und Gärten, hinter diesen in zerschlissene Kleider gehüllten Menschen, hinter
diesem gegenwärtigen, rastlosen, wirnmelnden, anscheinend mühseligen und an
unmittelbarer Freude armen Leben lag.

*

Die Kleidung der Menschen. Das ist das erste, was auffällt. Kaum eine
andere Kopfbedeckung als Schirmmützen, Proletariermützen, Lammfellmützen,
sehr selten ein Hut, als Prunkßück: lederne Antohauben mit eindrucksvoll
herabbaumelnden Ohrschützern. Überall Reste alker bürgerlicher Kleidung,
selten ein alter schöner Bauernpelz, mit dem Leder nach außen, viel lederne
Iacken, viel Reithosen, Stiefel, manche offenbar amtliche Gestalten, als
kämen sie eben erst ans einem letzten Rest von Bürgerkrieg. Die Frauen
oft rührend bemüht, sich mit den dürftigsten Mitteln zu schmücken, ofk mit
sehr kurzen Nöcken, nicht aus Koketterie, sondern aus Stoffmangel. Kaum
irgendwo der Ansatz zu einer eigenen Kleidung, wenig Russenblusen, wenig
Trachtenartiges. Was mir aber überall, auf der Straße, in den Läden, im
Theater den stärksten Eindruck macht: man trägt das alles mit einer Unbe-
kümmertheit und Selbsiverständlichkeit, die etwas Großzügiges und Überlege-
nes hat. Llnd man sieht den gntgekleideten Enropäer höchstens naiv erstaunt,

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