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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 12 (Septemberheft 1932)
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Ullmann, Hermann: Vom Volk zur Nation
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0848

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das Besireben, sich als Klasse abzusondern nnd der Nation gegenüberzustellen,
sondern vielmehr: die lbkation zu erobern. Jn Deutschland schien das Werden
der Nation dnrch die Klasse in eine hossnungslose Sackgasse gedrängt.

Da kam ein neues, schlechthin gesamtdeutsches Erlebnis: Krieg und Nach-
krieg. Er ließ das Volk, das als Ganzes angegrissen wurde, als Ganzes sich
neu erleben, in seiner vollen Breiten- nnd Tiesenausdehnung. Auch dieses
gewaltige geschichtliche Erlebnis der als Ganzes angegrissenen Nation (die
sich freilich nicht als Ganzes verteidigt hat) sgaltete sich zunächst noch in
verschieden bewertete Teilerlebnisse. Und da wir noch mitten in seiner Ent-
saltung stehen, läßt sich seine letzte Auswirkung nur ahnen. Jedensalls be-
hauptete sich bis jetzt innerhalb der Weltkrise mit erstannlicher Festigkeit
zweierlei: die äußere Einheit des (zwar verstümmelten) Kern-
staates, und das Streben nach einer neuen Funktion dieses Staates
innerhalb eines völlig neuen, am deutschen Horizont sich abzeichnenden Ge-
bildes: innerhalb der Nüljom

Fn der lbeation sucht das Volk, durch den Angriss von Krieg und Weltkrise
und durch die industriell-technische Entwicklung in seiner Substanz bedroht,
Ersatz sür die sich auslösenden „organischen" Bindungen. Während man aus
der einen Seite diese Bindungen (Familie, Heimat, Landschaft, Gesittung,
Sprache, Boden) zu schützen sucht, entstehen ans der anderen Seite, aus dem
Widerstand gegen die Klasse und gegen den liberalen Boden der Klasse,
Nckassenbewegungen, die in ihren Mitteln und ihrem Wesen alles andere
als konservativ sind.

Bis zum Kriege war Vermassung gleichbedeutend mit Ausgehen in der
Klasse, im klassenbewußten Proletariat. Jm Weltkrieg und Nkachkrieg
wnrden so wichtige Teile des Bolkes entwurzelt und vermasst, daß die Klas-
senbewegung, die inzwischen zudem „verbürgerlicht" war, ihren Sinn verlor.
Es wurden schließlich Schichten entwurzelt und vermasst, die, ihrer alten
sozialen Heimat beraubt, nach Tradition und 2lrt sich nicht in die Klasse
ergießen konnten, sondern ein anderes Gesäß, eine andere nene Bindung und
Heimat suchten. Jhnen, die vom Kriegserlebnis, vom (meist nicht klaren)
Erlebnis der bedrohten Bolkssubstanz ergrissen waren, stand der ungeheuere
Hohlraum der in Bildnng begrissenen Nntion ossen. 2lber da diese Form
nicht sür die Mässen vorbereitet, nur wenigen sichtbar war, da sich ihnen
serner auf halbem Wege der Staat in seiner liberalen Borkriegsstruktnr,
nnr mit verändertem republikanischen Weimarer Borzeichen, in den Weg
stellte, so wurde ihnen zunächst dieser Staat der Feind, und sie landeten, im
Kampf gegen das „System", in diesem System selbst, in Parteien. Und neile
Parteien nnr, nicht die Nation selbst, sind es znnächst, die an den Kernstaat
ihre Forderungen stellen.

Dieser geschwächte, in seiner Sonveränität von innen und außen beschränkte
Kernstaat hat in den letzten vierzehn Iahren einen wechselvollen Kamps um
seine Erhaltung, um seine Unabhängigkeit von partikularen nnd Grugpen-
Tendenzen gekämpst. Er wurde von „pluralistischen" Mächten als Mittel
beansprucht: von Jnteressentengruppen, von Gewerkschaften, von den Par-
teien, von politisch organisierten Konsessionen, von Ländern, von der Büro-

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