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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 5.1925

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Orloff, Ida [Übers.]: Russisches Theater, 1, Theater im Wirtshaus
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0603

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Die Räume dieser Bierstuben sind durchaus nicht elegant, an den getünchten
Wänden sind keinerlei Verzierungen angebracht außer lakonischen Aufschriften
wie: „Trinkgeld entwürdigt den Menschen“, „Betrunkenen wird nichts verab-
folgt“ usw. Die Gäste, die hier verkehren, stellen in bezug auf Einrichtung
keine unbescheidenen Anforderungen. An den einfachen Holztischen sitzen nach
einem arbeitsreichen Tag müde Arbeiter, kleine Angestellte, Durchreisende aus
der Provinz, kurz, ein Publikum, das in die Bierstube geht, um auszuspannen,
sich zu zerstreuen, bei einem Glase Bier zu plaudern und auf diese Art seinen
Vorrat an Anregungen (Eindrücken) wieder aufzufüllen. Man muß in Rechnung
ziehen, daß die Besucher der Bierstuben nicht zu der Klasse der fortgeschrittenen
Arbeiter und Angestellten gehören (die in Klubs, in Vereinen usw. Zerstreuung
finden). Der „Mosselprom“ hat deshalb ein Bühnen-Unternehmen geschaffen,
das Bierstuben und Speisehallen mit Unterhaltung versorgt. Diese Bühne dient
Agitationszwecken.
So unwahrscheinlich das klingen mag, „Die blaue Bluse“, das Bühnen-Unter-
nehmen des „Mosselprom“ leistet seine kulturelle Aufklärungsarbeit im Wirtshaus.
„Die blaue Bluse“ macht auf den Besucher, der ein Theater kaum kennt und
an Schaustellungen irgendwelcher Art nic,ht gewöhnt ist, den stärksten Eindruck
durch die bunte Lustigkeit ihrer Darbietungen. Neue Späße und Lieder bleiben
den Gästen lange in Erinnerung, und mit ihnen bleiben auch die neuen Ideen
in ihrem Gedächtnis haften.
Aber wie jedes neue Unternehmen, so hat auch „Die blaue Bluse“ bei ihrem
Vordringen mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Spielplan der „blauen Bluse“
muß immer hochaktuell und infolgedessen auch sehr reichhaltig sein, aber leider
sind die Literaten nicht immer zur Stelle, die zu solcher Arbeit herangezogen
werden könnten. Die Verfasser von Couplets und Revuen alten Stils aus den ver-
schiedenen Variete-Theatern und Music-Halls haben hierfür keine Eignung, sie
können sich, soviel sie sich auch bemühen, nicht einstellen auf diese neue Art,
es wird immer ein Rest des alten Cafö-Chantant merkbar bleiben. Die jungen
Autoren mit proletarischer Ideologie, mit einem ganz richtigen Klassenempfinden
hingegen beherrschen wieder die Bühnentechnik nicht genügend und sind nicht
immer imstande, den geeigneten Stoff kurz und scharf genug zu verarbeiten. Das-
selbe gilt auch von den Schauspielern. Die der alten Bühnen müssen auf der
gegenwärtigen als unmöglich bezeichnet werden; ihre Durchschnittsleistungen,
die auf den Geschmack der Masse angelegt waren und auf die ehemaligen klein-
bürgerlich gerichteten Hörer angenehm wirkten, sind für die heutige Zeit ab-
solut ungeeignet. So lastet die ganze Schauspieler-Arbeit auf den Schultern der
ehrlichen und heißblütigen Jugend; selbstverständlich muß da wieder damit ge-
rechnet werden, daß dieser Jugend oft die technische Erfahrung fehlt, aber
diese Schwierigkeiten werden allmählich überwunden.
Die künstlerische Form der Darbietungen steht in engem Zusammenhang mit
den Bedingungen, unter welchen sie in den Bierstuben zu Gehör gebracht werden
können. Die Luft ist von Tabaksqualm und dem Dunst der Speisen durchtränkt
und dick. Die Wände, in die sich die Bühne einfügt, meist in dunklem Ton ge-
halten, verlangen nach bunten Farben und nach Vereinfachung des Kostüms
und des Schminkens. Die Gesichter müssen mit ihren klaren, scharf gezeich-
neten und typischen Zügen wie Masken wirken. Wie Plakatzeichnungen müssen
sich die auftretenden Personen in ihren schlichten, buntfarbigen Kostümen dem
Gedächtnis einprägen. Durch die rasche Aufeinanderfolge der Darbietungen
und das Fehlen eines Vorhanges wird die Verwendung jeglicher Requisiten zur

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