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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 5.1925

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Lichnowsky, Mechtilde: Vor tausend Jahren
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0752

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trinken, in den Gebüschen, wo die Zweige sich gabeln und junge Keime tragen,
an der alten Petroleumtonne, die mit Regenwasser gefüllt war, an den Nestern
und Schlupfwinkeln aller Tiere, beim Schreiner Schwarz, der so märchenhaft
lange Holzlocken hobelte, beim Maurer Manzinger, der mit der Kelle immer
wieder etwas aus den Überschüssen eines eiskalten Mörtels zum Bewerfen
fand, beim lieben Gott im Himmel und beim bösen Feind in der Hölle . . .
*
Das Schwarz eines finsteren Zimmers ist nur in der Nacht schwarz. Nach-
mittags ist es dunkel, dunkelrot. Und weil die Sonne alles tut, um doch herein
zu scheinen, gleichen alle Ritzen und Fugen der Holzläden glühenden Nadeln.
Von weitem, von den Untiefen des Bettes aus, hört sich das Zirpen der Grillen
als dem eigenen Kopf entstammend an. Kein Zweifel: Der Kopf zirpt; wie
ja auch er in der Mittagsstunde heiß ist, nicht etwa die Sonne; und blenden,
das tun die Augen, nicht das Licht. Das meiste von dem, was das Kind sieht,
wird von Vater oder Mutter gemacht. Bleiben die Gewitter. . . Das ist der
Teufel.
Der liebe Gott ist der, der alles sieht, einmal alles getan hat, und der einen,
von sehr weit noch so erkennen und beobachten kann, daß man es kaum zu
fassen vermag. Dann gibt es noch das Christkindl und die unerreichbare
Muttergottes, viele Heilige und alle Braven dieser Welt. Aber wirklich geben
tut es nur den Teufel. Der kann was und läßt sich keine Gelegenheit entgehen
und kein Gewitter. Alle Decken und alle Plumeaux, nichts bewahrt vor den
blauen Blitzen, deren Lautlosigkeit fast schreit, und vor dem erbosten Knallen,
wie wenn alle Balken der Welt zusammenschlügen.
Und der Blitz weiß genau, wo das Kind liegt. Wehe, wenn es sich erlaubt,
einmal zu denken: „Ah, mir wird er nichts tun!“ Oh, das sieht der Blitz, und
noch schärfer, wenn man gedacht hätte: „Morgen stehle ich mir ein Bonbon
bei der Mutter — —“ Solches Denken bestraft er gleich! Denken wir lieber
etwas Gutes: „Lieber Gott, ich bin so brav!“
*
In den Händen ein Wollfaden und beinerne Nadeln. Die Hände sind
heiß, denn Juli und Wolle — — Oh!!! Adöle lehrt stricken. Jetzt kommt alles
auf, das Fünfjährige ist ein Mädchen. Das ist das Entsetzlichste, was einem
Menschen geschehen kann. Ohhhhh 1!
Aus dem Mund der Adöle tönt es unermüdlich:
„On prend — on passe le fil — — on fait la maille . . .
on prend — — on passe le fil — — on fait la maille . . .
on prend — — on passe le fil — — on fait la maille . . .“
Und es entsteht ein abscheuliches Gewurstl ohne Zeichnung. Nur die Fehler
sieht man. Die Wolle knotet sich, die Nadeln gleiten nicht, weil das Kind den
Faden zu sehr anspannt und die Hände feucht werden vom Halten der Woll-
arbeit im Juli. Es zwingt die beinernen Nadeln zu Durchbrüchen. Die Maschen
fallen teuflisch. Das können sie. Zwei bis drei sind untergegangen in dem
entsetzlichen Wollsumpf. Man sieht sie weit unten liegen. Das Kind wird
getötet, wenn’s aufkommt. Es fischt sie also auf . . . Aber die Maschen sind
schon tot. Sie kommen an Land herauf, passen aber nicht mehr zu den

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