Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 5.1925

DOI Artikel:
Ungewitter, Harald: Wie wird man Philosoph?: Äußerungen führender Fachleute
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0767

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
bildungsprozeß vollendet war: dies erfolgte ab 1911, im Schaffen des Reise-
tagebuchs. — — Jetzt mußte ich hineinwachsen in den so lange und sorgsam
vorbereiteten Geistes- und Seelenleib. Den primitiven Menschen meiner Kind-
heits- und Jünglingsjahre hatte ich verleugnet; seither war ich in persönlichem
Sinne nicht eigentlich mehr dagewesen. — — Ja, jetzt erst sollte, durfte der
Prozeß in mir beginnen, der bei fast allen Menschen mit 21 Jahren spätestens
seinen Abschluß gefunden hat. — — Ich erkannte, daß der Weg zur Entstehung
in meinem Falle nur über eine Geistesschöpfung führen konnte; daß ich mein
Sein zuerst herausstellen mußte, um es alsdann für mich zu erobern. Bald fiel
mir auch ein, in welcher Form dies am besten glücken mußte: indem ich mich
der Veränderungen der Erscheinungen, die eine Weltreise selbstverständlich in
mir bewirken würde, als Ausdrucksmittel für
mein persönliches Wesen bediente. — y
Im Herbst 1914 sollte das Reisetagebuch er-
scheinen. Nachdem ich die zweite Korrektur zum
ersten Bande gelesen hatte, schlug Europas Schick- s
salsstunde. Offiziell stand ich auf russischer Seite. /
Innerlich aber war mir der Weltkrieg, solange ich \
ihn herannahen gefühlt hatte, geistig betrachtet,
ein Un-Sinn, und moralisch-seelisch ein Greuel,
denn mir bedeuteten die Probleme, um die er
geführt wurde, nichts; ich war, solange ich
denken kann, der Europäer, zu dessen historischer 'IC
Geburt der Zusammenbruch so vieler alter Staats-
wesen letzten Endes wohl gut gewesen sein ff
wird. — — In der neuen Wandlung, die wäh- //
rend der Kriegsjahre begann, befinde ich mich /Z,
noch mitten drin. — — Die vitalen Kräfte der *j> ZßjE
Zeit vor meiner ersten Verwandlung erwiesen Fl
sich als neuerwacht, — besonders aber erlebte yk
der jahrzehntelang unterdrückte, auf Tat gerich- > w
tete Wille einen wahren reveil du Hon. Immer ß&P
vulkanischer trieben mich fortan die in mir
waltenden Tatmenschen - Energien vorwärts. — Max Mayrshofer
Der Ästhet von einst scheint tot. Aber für
mein subjektives Bewußtsein bin ich, so seltsam dies klinge, seitdem die
Umkehr sich zu vollziehen begann, nicht fortgeschritten, sondern zurückgegangen,
denn die Überlegenheit des Tagebuchzustandes kenne ich nicht mehr. Die
Überlegenheit des Tagebuchmenschen war noch nicht die, welche ich erstrebte;
sie war einseitig logoshaft. Jetzt gilt es, die Apokatastasis des Eros zu voll-
ziehen. War ich in Dorpat allein vitaler Tatmensch, seither nur zartsinniger
Versteher, so mußte ich jetzt Geist und Leben in ihrer Verwurzelung im trieb-
haften Lebensquell neu verknüpfen. — —

Rabindranath Tagore meinte oft, einen so extrem ausgeprägten und vulka-
nischen Westländer wie mich hätte er nimmer gesehen, und ich glaube nicht,
daß ich ihm eigentlich sympathisch bin; umgekehrt liegt jener sanfte Lyrismus
als solcher mir wenig. Aber vielleicht beschließe ich mein Leben noch einmal
in äquivalentem Frieden.

Darmstadt 1922.

511
 
Annotationen