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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 5.1925

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Gómez de la Serna, Ramón: Ein Liebhaber wird umgebracht
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#1561

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Ihm war, als ob auch sie in Gefahr geschwebt hätte. „Und der Deine ?
Ist er nicht auch gekommen, um dich zu töten?“ hätte er sie gern gefragt.
„Hast du gelesen ?“ fragte er nur.
„Ja ... die arme Frau“, war ihre Antwort, und aus ihrem Ton er-
kannte er, daß Cristina nicht weiter von der Sache sprechen wollte. Wenn
sie auch mutig war, sie wollte nicht erzittern.
Rodrigo war zumute, als wenn diese die letzte Nacht wäre; die Küsse,
die er Cristina gab, waren wie Abschiedsküsse.
„An diesen Tagen,“ sagte er zu ihr, „wo alles in die Sommerfrische
geht, ist mir, als ob alle Menschen abreisen, als ob auch du abreisen
wolltest. Mir ist, als ob du in ein fernes, fernes Bad gingst, um anderen
Männern als Witwe zu erscheinen ...“
„Aber Sie wissen doch, daß ich nicht verreise ... Daß es mich reizt,
einmal Madrid im August zu sehen ... Daß ich an Ihrer Seite hier in
dem schummerigen Salon die Dämmerungen aller Sommernächte ver-
leben will...“
Die Stunde des Nachtmahls war schon vorüber. Durch die Straße lief
das Schweigen jener Ruhestunde, in der die Menschen sich noch im
Speisezimmer ihrer Häuser befanden und kühles Wasser schlürften, wäh-
rend sich die Dienstmädchen in Wasserträger verwandelten und große
Krüge auf den Schultern schleppten ...
Die beiden waren einsilbig und nachdenklich geworden und wußten
nicht, in welcher Stunde sie sich befanden. Vermutlich dachten sie beide
an dasselbe und sahen den Schattenriß eines Mannes, der an der Straßen-
ecke an einer Laterne lehnte; sie sahen den Mann, an den sie nicht denken
wollten und den sie fürchteten. Der drehte sich die letzte Zigarette vor
dem Mord mit einstudierten, lässigen Bewegungen. Er trug den breiten
Kordoveserhut der Ehemänner, die töten, und hatte ihn tief in die Stirn
gedrückt, um unauffälliger nach dem Balkon zu spähen, in dessen Hinter-
grund die beiden saßen.
Er machte ein Zeichen, das ihnen eine Todesdrohung schien; aber sie
wurden aus ihrer Angst erlöst, als sie bemerkten, daß er nur einer Frau,
die über ihnen wohnte, Zeichen machte, damit sie zu ihm herunterkam.
„Wer, glaubst du, daß es war?“ fragte Rodrigo. „Du schautest so
angstvoll zu ihm hin ...“
„Niemand ... Ich sah ihn nicht . . . Ich dachte an etwas anderes“,
antwortete Cristina.
Die Hitze warf Dinge und Wesen durcheinander. Es war die schwüle
Stunde, in der das Weh des großen moralischen Rheumatismus unerträg-
lich wird, in der ein Mensch, dem etwas fehlt, das Fehlende noch
bitterer vermißt; die Stunde, in der alle Beschwerden aufeinanderstürmen.
Man fühlte, daß die Straße etwas Revolutionäres atmete, daß ein
Aufstand sich vorbereitete und bewaffnete. (Deutsch von Oswald. Jahns.)
*
Aus dem Roman „Die weiße und schwarze Witwe“, der im Propyläen-Verlag
erscheinen wird.

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