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Verein für Historische Waffenkunde [Hrsg.]
Zeitschrift für historische Waffen- und Kostümkunde: Organ des Vereins für Historische Waffenkunde — 2.1900-1902

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Heft 1
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Reimer, Paul: Die älteren Hinterladungsgeschütze, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37716#0017

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Die älteren Hinterladungsgeschütze.
Von Pau! Reimer,
Oberleutnant im Badischen Fuss-Artillerie-Regiraent No. 1.4.

Es ist eine in der Technik häufig beobachtete
Erscheinung, dass als neue Errungenschaften ge-
feierte Erfindungen sich plötzlich als alte Bekannte
erweisen, die aus ihrer Vergessenheit hervorgeholt,
von neuem der Menschheit dienen müssen. Heftig
entbrennt dann der Streit, wem der Ruhm des Er-
finders zuzusprechen ist. Einen geradezu typischen
Fall dieser Art brachte vor nicht langer Zeit die
Zeitschrift «Prometheus». Es wurde darin eine
amerikanische Erfindung, die sog. Kettenfräse, be-
schrieben, eine mechanische Vorrichtung zur leichten
Herstellung von rechteckigen Löchern in Holz, die
bisher für Verzapfungen bei Möbeln etc. durch den
Tischler mit dem Lochbeitel mühsam ausgestemmt
werden mussten. Alsbald erhoben sich Stimmen,
die den Erfinderlohn für andere in Anspruch nahmen.
U. a. führte ein Arzt an, dass ein ganz auf dem-
selben Princip beruhendes Instrument, Osteotem ge-
nannt, bereits im Anfang dieses Jahrhunderts von
den Chirurgen zur Oeffnung der Schädelhöhle be-
nutzt w mden sei. Mit Recht wies hier der Heraus-
geber des «Prometheus» darauf hin, dass die Merk-
male einer neuen Erfindung auch dann vorlägen,
wenn ein schon bekanntes Mittel zur Erreichung'
eines neuen Zweckes nutzbar gemacht werde.
Der gleiche Fall liegt in unserer Artillerie-
Technik vor. Die beim Dreyse’schen Zündnadel-
gewehr, ums Ende der fünfziger Jahre beim Geschütz
eingeführte Hinterladung wurde kaum als eine ausser-
ordentliche Erfindung betrachtet, denn Hinterladungs-
geschütze waren seit den ältesten Zeiten bekannt, unter
ihnen sogar mit Drall gezogene. Und doch ist der
Zweck der Hinterladung heute ein wesentlich an-
derer wie früher, ein Zweck, der nur durch die
Hinterladung erreicht werden kann und an den selbst
die Konstrukteure der alten gezogenen Geschütze
nicht im Entferntesten gedacht haben: die Anwen-
dung der Pressionsführung der Geschosse. Der für
die Entwickelung der Artillerie hierdurch herbei-
geführte Fortschritt wird vielfach völlig verkannt.
Wie oft wird bei Berichten von der Auffindung
irgend eines uralten Kanonenrohrs ganz besonders
betont, dass dieses Rohr ein Plinterlader sei, und
mitunter noch die Bemerkung daran geknüpft, wie
doch das «Mittelalter» nicht allein in der Kunst,
sondern auch in der Artillerie auf der Höhe unserer

Zeit gestanden habe. Es wird eben dabei über-
sehen , dass das allbekannte Mittel heute einem
neuen, wichtigen Zweck dienstbar gemacht ist. Um
einen Vergleich zu gebrauchen, so verhält sich der
moderne Plinterlader zu dem des Mittelalters, wie
eine heutige Dreifach-Expansions-Maschine zu der
atmosphärischen Dampfmaschine von 1705. Heute
finden wir eine bewusste, mit Hülfe aller bekannten
Gesetze der Physik und Chemie herbeigeführte Aus-
nutzung der Naturkraft, im Mittelalter waren ähn-
liche Einrichtungen ein Notbehelf, um überhaupt
zu einer Benutzung einer Naturkraft zu gelangen,
deren Wesen noch wenig bekannt war.
Wie heute der Hinterlader dem Vorderlader
folgte, so war dies auch im Mittelalter der Fall —
die ältesten Geschütze waren Vorderlader. Es dürfte
hier der Ort sein, der Behauptung Demmins1) ent-
gegenzutreten, nach welcher nächst den Mörsern die
an beiden Enden offenen Kanonen die ältesten Ge-
schütze waren. «Die Ladung wurde in das untere
Ende gebracht, diese Oeffnung durch mittelst eines
hölzernen Hammers eingetriebene Metall- oder Holz-
keile verschlossen.» Erst dieser Art sei das Ge-
schütz mit beweglicher Ladebüchse gefolgt. Aller-
dings hat es kleine, zu den Handfeuerwaffen zu
rechnende Rohre gegeben, die hinten durch einen
eingeschlagenen Pflock geschlossen waren, aus dem
sich später die Bodenschraube mit dem Schwanz-
stück entwickelte und der nur ein Widerlager gegen
den Schaft darstellte. Abgesehen davon, dass eine
ballistische Begründung dieser Art von Hinterladung
gänzlich unmöglich ist, lässt sie sich auch vom tech-
nischen Standpunkte nicht halten. Wie gross hätte
die Kraft sein müssen, um den Pflock nach jedem
Schuss zu entfernen, nachdem er dem Druck der
Pulvergase widerstanden? Oder nahm man das Rohr
nach jedem Schuss aus der Schäftung, um den Pflock
zu entfernen?
In moderner, wie in alter Zeit entsprang die
Hinterladung dem Bedürfnis nach besserer Ge-
schosswirkung. Das durch seine grössere Spreng-
ladung wirksamere Langgeschoss verlangte, um es
am Ueberschlagen zu verhindern, die Erteilung
einer sehr raschen Drehung um die Längsaxe, also

1) Demmin, Die Kriegswaffen. . S. 108.

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