Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

DOI Artikel:
Sachs, Hans; Steinlen, Théophile-Alexandre [Gefeierte Pers.]: Théophile Alexandre Steinlen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0508

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
lebten Urfachen fozialen Elends, fchürt 3orn und Leidenfchaft gegen häßliches und
Schlechtes. Gerechtigkeit bäumt fiel) auf, zeigt Schwache im Kampfe mit Starken, gibt
Unterdrückten Kraft gegen ihre Peiniger, ftellt flammende Verwahrung hm gegen Ge-
walt und Not. Klie echt ift feine Entrüftung, wo fie menfchliche Cöne findet gegen un-
verdientes Schickfal, erhabene Anklage gegen den Unhold der 3eit fchleudernd! UCIie
liebt Steinlen diefe Menfdjen, diefe entrechtete Schicht, diefen morgendlichen 3ug der
Arbeiter und Arbeiterinnen, diefe Gruppen auf den Boulevards, den heä erleuchteten
und den dunklen, die Verborgenes grellem Lichte nicht preisgeben wollen! Das Leben
diefer kleinen Klägerinnen, diefer feinbefchuhten, hurtigen, kecken Midinetten ift auch
das feinige, ihre Freude die feine, ihre Crauer die feine. Ihre Seele hat die feinige er-
füllt und reich gemacht. Klir werden umfangen von ärmlichen Derbergen und Spelunken,
wo die Körper ermüdeter Städter von des üages Laft ausruhen, wo die Maler in ihren
blauen Kitteln einkehren, wo Liebespaare zum Dämmerlicht ftreben, Apachen heran"
pirfchen, wo Schmerzen und Leiden, Entfagungen und Erniedrigungen zu ftummen An-
klagen werden. An Fabriktoren, durch die das Volk hmausftrömt, dort fd)lägt Stein-
lens Fjerz [chneller, da durchwärmt ihn die kleine Kielt des Proletariers, in deren Quar-
tieren er fein eigenes Fjeim auf ftellt, da offenbart [ich ihm der Geift derer, deren Sprache
er begreift. Fjier find die ftarken Klurzeln feiner Kraft: Klährend andere [ich vergeblich
abmühen, das Individuelle, das befondere Kiefen des Einzelnen zu packen, umfehüngt
Steinlen mit einem ftarken Band die Müden und Gequälten, Sorgenbeladenen und Glück-
entbehrenden und zeigt ihr Urbild, ihrer ftarken Regungen und unterdrückten Klallungen
ewig gleiches Merkmal. Denn nur das Gemeinfame, Verbindende kann ihn feffeln,
nicht der Einzelne in feiner abgekehrten Befonderheit. Behutfam legt er einen durch-
fichtigen Schleier über die 3iele Feiner Liebe, hinter dem die Befonderheit des Einzelnen
gedämpft verklingt; jeder von ihnen, aufgelefen aus der gequälten Maffe Volk, wird
ihm zum bezeichnenden Uräger des gefct)äftig vorübereilenden Lebens. Er leiht ihnen
die eigene Bewegtheit feines reichen Innenlebens, flößt ihnen den Odem feiner zarten
Seele ein und verkapfelt fie in feinem Innern, um fie, wo es ihm gut dünkt, mit feinem
3eichenftift in das volle Licht des Uages zu ftellen. So wird ihm die Kielt des Prole-
tariats zum künftlerifchen Erlebnis, fo wird er der Freund der alten Buchhändlerin
auf dem Montmartre, die feine Plakate verkauft und auf die Bemerkung, fie feien teuer,
ftolz antwortet: „Mais, monsieur, c’est notre Steinlen.“ Und in jeder neuen Arbeit,
die feine befcheidene Arbeitsftube verläßt, offenbart [ich ßm Künftler von ftärkfter Inner-
lichkeit, der aus der eigenen Ciefe h^rausholt, was von außen hereindrang und auf-
gefpeichert war, der [ich felbft auslöfcht, um auf die Stimmen zu laufchen, die in ihm
tönen, auf die Gebilde menfeblicher Regungen, die in ihm KJiderhall gefunden haben.
Seinem wohlwollenden, zarten Blick erfd)eint nichts häßlich, alles wird ihm zum fchönen
Erlebnis, das in der Fjülle eines grauen Alltags einen kriftallklaren, fchlackenreinen Kern
darbietet.
Aber er durchdringt nicht nur die Seelen der Menfchen. Aud) das Eier offenbart
ihm eine Seele, und wenn er felbft die Uräger der unbelebten Natur aufs liebevollfte
behandelt, fo fpendet fie ihm dafür ihren Dank, indem fie ihm die Gabe verleiht, feine
Bilder fo zu befeelen, daß ßie lebenden Kiefen gleichen.
Bedarf es nach dem eben Gefagten noch eines Beweifes dafür, daß Steinlen niemals
Karikaturift in des Klortes wahrer Bedeutung gewefen ift? Nur gedankenlofes Urteil
konnte feine Satire als Karikatur, den Ausdruck einer übervollen menfchlichen Seele als
Spötterei bezeichnen. Es zeugt wirklich von großer Gedankenarmut, wenn man ihn ftets
in eine Reihe mit dem großen Spötter und fatirifchjen Ankläger Coulouse-Lautrec ftellt,
deffen Kleggenoffe er freilich eine 3ßälang war. Dort graufamer Peitfchenfchlag, Gift
und Spott, Schärfe und Fjohn, mitleidslofe Anklage und unerbittliche Nacktheit, hier Ent-
fchuldigung und Milde, Güte und Verftehen, Fjäfsbereitfchaft und Einfühlung. Aber
trotzdem erfcheinen der franzöfifchen Regierung feine Schilderungen aufreizend, die

484
 
Annotationen