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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Passarge, Walter: Eine "Schöne Madonna" in Erfurt
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#1004

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Eine „ f d) ö n e Madonna“ in Erfurt
Mit drei Abbildungen auf zwei Tafeln Von WALTER PASSARGE

Das Problem der „feßönen Madonnen“ ift vor einiger durd) Pinder in [einer
ganzen Breite und Liefe aufgerollt und, [oweit es überhaupt lösbar erfcßeint,
auch gelöft worden. Unter den fpäteren Faffungen des eigentlichen Lßemas
wird dabei ein Ulerk erwähnt, das vielleicht eine nähere Betrachtung verdient. Es ift
die „Rebenftock-Madonna“ im Erfurter Mufeum, eine maffive Sandfteinarbeit.
Die Madonna hat ihren Namen vom Haus zum Rebenftock, einem [pätgotifchen Pa-
frizierhaus in der Futterftraße zu Erfurt, wo [ie bis vor kurzem in einer Nifcße eines
[pater auf gefegten Barockgiebels ftand1. Das UIerk — an [einem urfprünglichen Stand-
ort durch eine Kopie erfeßt — mußte zunächft von einer vielfachen Farbfcßicßt befreit
werden, ehe die geringfügigen aber [ehr reizvollen Refte der alten Faffung [ichtbar
wurden. In der Höße bleibt die Madonna mit 1,25 cm wefentlicß unter Lebensgröße.
Die Ärbeit zeugt von ausgefprochen plaftifcßer Geftaltungskraft. Ganz rußig, fe[t, breit
fteßt Maria auf der fcßmalen Sockelplatte. Prall wölbt [ich der Kopf unter der mäch-
tigen Krone aus doppelter Umfcßalung von lockigem Kräufelßaar und breitem Kopftuch.
Aus der Kugel des Geficßtes [pißen fid) Nafe, Mund und Kinn hervor, unmerklich aus
[anfter Rundung in kantige Eckung übergehend. Die großen, [tillen Äugen, von traum-
fcßweren, mondficßelförmigen Lidern gerahmt, find aus flacher Mulde herausgerundet.
Ulundervoll ift das Spiel von Ließt und Schatten auf diefen [tili geformten Flächen.
Sehr [anft fließen Helligkeiten und Dunkelheiten ineinander über, nur [eiten [tärkere
Kontrafte bildend, wie bei den Äugen, wo [icß das Oberlid in gedämpfter Hßde, das
Unterlid (mit [cßarf belichteten, hellem Rand) dunkel gegen die (Hange abßebt. Ein
gütiges Läcßeln [pielt um den Mund, der [icß als tiefe Furche über dem belichteten
Kinn ßinzießt. Mit der Rechten ßält Maria das Kind, mit der Linken reicht [ie ißm
die entblößte rechte Bruft. Unerhört feft [ißt der dralle, halbnackte Bub auf der feinen
Hand der Mutter, gibt [icß unbekümmert dem Genuß ßin, mit animalifcßer lUolluft
preffend und [äugend. Uläßrend er den rechten Fuß gegen den Leib der Mutter
[temmt und die Rechte fcßlaff in der Linken der Mutter liegt, [o daß die beiden Ärme
von Mutter und Kind eine fein gefeßwungene Verbindungskurve bilden, „patfeßt“ er
mit gefpreizter linker Hand auf ißre Bruft. Das alles ift von köftlicßfter Naivität er-
füllt, pracßtvoll beobachtet und von rührender Intimität.
Über Marias Schultern gleitet der Mantel herab, der über dem rechten Bein zu
Boden fällt. Darunter trägt [ie ein langes, an der Erde [cßleppendes Gewand, das in
prachtvollen, großen Hängefalten zur Linken der Figur ßerabwallt. Gerade diefe Bil-
dung des Gewandes erinnert ftark an die eigentlichen „feßönen Madonnen“. Man
könnte die längfte Diagonalfalte als die bekannte „Haarnadelfalte“ auffaffen, die am
Boden geborften ift. Äucß die [eßr fein behandelten Hände, das fein pliffierte und
cßarierte Kopftuch laffen an die fräßen dlerke denken. Dennoch: gerade die großen,
in der rechten Hüfte gabelnden Hängefalten haben einen wefentlicß anderen Charakter.
Sie find durchaus nießt meßr raumfeßaffend, [cßattenfangend, in [tofflicßer Fülle fcßwel-
lend — ße wirken vielmehr wie auf eine Fläcße aufgefeßt und haben bei aller Uleicß-
ßeit feßon wieder eine gewiffe Schärfe. Owifcßen diefen einzelnen Querfalten dehnen
pcß glatte, kaßle Flächen, die durch Splitterungen eckiger Meißelfcßläge aufgelockert
find. Das Gewand hat meßt meßr den Charakter einer dichten Stofflichkeit, [ondern
den einer gewiffen Dünne, faft üransparenz. Än die Stelle des Üppig-Blüßenden,
Uleicß-Scßwellenden, an die Stelle raufeßender Fülle, die den früheren „feßönen Ma-

1 Overmann, Kunftdenkmäler der Stadt Erfurt. Nr. 80.

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