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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Lückger, Hans: Ein neuer Typ des deutschen Vesperbildes
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#1100

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STUDIEN UND FORSCHUNGEN

Ein neuer Eyp des de
Mit zwei Abbildungen auf einer Tafel
Das Intereffe, das Inhalt und Geftalt der Pieta
entgegengebracht wird, macht es zur Pflicht, die
Öffentlichkeit mit einem Stück aus Kölner Privat-
befitj bekannt zu machen, das einen im Norden
vollkommen unbekannten Cyp, eine ftehende
Pieta, darftellt. Bisher war dies ikonographiph
fo feltene 'Cbema nur aus der Fa[fung bekannt,
die Michelangelo der Pieta gab, die er für fein
Grabmal beftimmte.
In einer 3eit, der ödende zum 16. Jahrhun-
dert, die der religiöfen Verinnerlichung des
14. Jahrhunderts fchon längft abhold einem
neuen Naturalismus fid) zuwendet, die ohne
Verftändnis für die ethifche Bedeutung des fül-
len In-Sich-Verfunkenfeins der frühen Pietä-
gruppen pch nunmehr in malerifd) aufgefaßten
breiten bewegten Schilderungen lauter Crauer
gefällt, fteht plötzlich diefe kleine Steinplaftik,
durchdrungen noch von dem Geifte des 14. Jahr-
hunderts, ein myftifch-religiöfes Erlebnis. Eng
gefchachtelt wie eine Schreinsplaftik, kompakt
und blockhaft, in ruhig einfacher Silhouette,
ift die Gruppe trotj einer gewiffen Flädjenhaftig-
keit ftark plapifd) empfunden. Der Moment,
den pe wiedergibt, liegt auf Mariä Leidensweg
zeitlich vor dem der üblichen Pietädarftellung.
Soeben hat man den Leichnam Chnfti vom
Kreuze gelöft und ihn der Mutter gereicht. Noch
— ehe pe pch niederfetjt, um den toten Sohn
in ihrem Schoße zu betten — fteht pe da, mit
gefpreizter Beinftellung, aber faft einknickend
unter der Laft des Leichnams, ein Bild unfäg-
lich hüflofen Schmerzes. Ergreifend ift der Aus-
druck ihres Antlitzes. Überwältigt von foviel
Elend i|t pe lauten Klagens nicht mehr fähig,
eine müde Ergebenheit breitet pdb über ihre
3üge, aber heiß quellen Cränen aus den halb-
gefcßloffenen Äugen, öüiderzuklingen fcheint
die pilie Größe diefes Schmerzes in den ruhig-
fd)weren 3ögen des Mantels, der in großer
Kurve pch um das Fjaupt Mariens legend, in
breitem Fluß zu Boden lapet, einzig unterbro-
chen von den weichen Brechungen des Über-
wurfs am linken Arme. In kraffem Gegenfatj
zu diefer vollen leidgefättigten Erfcheinung
Mariens, der Korpus Cßripi. Der Körper ab-

utfdjen Vefperbildes
Von HANS LÜCKGER
gehärmt und eckig, das Äntli& zerquält und leb-
los, die Fjaare prähnig, das Fjaupt unter der
Laft einer übergroßen Dornenkrone zur Seite
gefunken, hängt der Leichnam ungelenk und
totenparr in dem behutfam zarten Griff der
feingliedrigen FJände der Mutter, ünd wieder
das Abgezehrte des Korpus in der kleinlichen
Knitterung des Lendentuches.
Die feelifche Ausdruckskraft, die parke Reli-
gioptät, die in diefer Gruppe fteckt, läßt eine
felbpändige bedeutende Künftlerperfönlichkeit
vermuten. Formal bot vielleicht eine Anregung
zu diefer neuen Äuffaffung des Pietätypus die
feit Anfang des 15. Jahrhunderts beliebte Gruppe
des Johannes, der die im Anblick des Kreu-
zes ohnmächtig zufammenpnkende Maria pü£t.
Auch inhaltlich ift der Cyp neu. Die frühen
Stücke geben die Szene als ein ftilles fchmerz-
volles Äbfcbiednehmen der Mutter von ihrem
toten Sohn, getrennt von aller Qm weit, in ge-
wolltem Älleinfein. Der Vorübergehende wird
hier zum Belaufcher der füllen Szene. Diefe
Intimität ift bei der vorliegenden Pieta aufge-
hoben zugunpen einer größeren Öffentlichkeit,
wie pe fiel) bereits anbahnt in den fpäten Ve-
fperbildern mit dem nach vorn gedrehten Chri-
pus. Maria fcheint pd) hier an den Betrachter
zu wenden, ihm den zermarterten Körper des
Sohnes vorzuweifen und ihn mit den CCIorten aus
Jeremias Klageliedern anzurufen: O ihr alle, die
ihr vorübergehet am Cüege, gebetÄd)t und fchauet,
ob ein Schmerz gleich fei meinem Schmerze.
Die Fjerkunft der 50,5 cm hohen Sandftein-
plapik ip ungewiß. Erworben wurde pe be-
reits vor dem Kriege in Engers bei Koblenz, ln
diefer Gegend wird jedoch auch der Ort ihrer
urfprünglichen Äufftellung und Entpehung zu
fuchen fein. Die weiche breite Behandlung des
Gewandes, zumal die muldenartigen Faltenzüge
von den Knien abwärts, wie auch der dem
Material widerfprechende dünnzarte Auftrag
des feingefältelten Lendentuches Chripi und der
Cränen im Äntütj Mariens fcbeinen die Qand-
fcßrift eines mit Con und Modellierholz zu ar-
beiten gewohnten mittelrheinifchen Meipers zu
verraten.

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