Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers (16.1924)

tikel fpih herausgebröckelt wurden. Im ganzen zeigt {icß gerade an diefen Radie-
rungen, wie wenig zeichnerifcß-linear bedingt die Formenauffaffung des Autors ift.
Dix, der zweifellos zu den gefcßicßtebildenden Kräften der Gegenwart gehört, in
kunftßiftorifcße Parallele mit Vorfahren zu bringen, kann nur die tlrwücßfigkeit diefes
Phänomens verdecken. Man fiat vor feinen Kriegsvifionen fiel) an Grünewald und an
Goya erinnert, — mit Namen wie Baidung Grien und (vor allem ßinficßtlicl) der Bild-
niffe) Fjolbein wäre an minder augenfällige, wefentlidjere Beziehungen gerührt. Jeder
Verfud), Dix gefdrjidfitlich einzuordnen, wird aud) Eouloufe-Lautrec vifieren müffen; fo
weit von deffen ßämifd)er Impreffion gewiß enormen Stils ein Dix doch gefeßieden
bleibt, deffen zynifeße Elegie nie am Grotesken der Erfcheinung haftet, fondern über-
all die Verzweiflung der Scßickfale ermißt, — der im megärifcß gemeinen Gefleht noch
einen anklagenden Blick getretenen Menfd)entums entdeckt und Ärm in Ärm, Fjure und
Kriegskrüppel ihr Jahrhundert in die Schranken eines vernidjtenden Gerichts fordern läßt.

In d i f d) e Malerei der Gegenwart
3ur XV.Jatyresausftellung der „India Society of Oriental Art“, Calcuttal924
Mit acht Abbildungen auf vier Tafeln Von STELLA KRAMRISCH

Rückgewandt erfeßeint Vergangenes als gereifte Frucht. Ihre Süße zieht ftärker an,
je ferner fie gerückt feßeint. Die Ferne mag von zeitlichem Äbftand beftimmt
“ fein, aber auch ein Verfcßieben der geiftigen Lage, ein Äbrutfdtjen einer be-
ftimmten Lebensform in eine ihr fremde Kultur mag plötjlicß Klarheit fchaffen. Der
Bruch rait der Vergangenheit erhöht ihre Koftbarkeit. Doch öer Sprung ift da. Ver-
gangenem kann er nichts anhaben, in der (Xlertung aber ift er fichtbar. Er macht fie
preziös.
Das war der Änfang der Malerfchule von Bengalen, deffen Kunftgeographie im
20. Jahrhundert auf einer fchiefen Ebene zwifeßen englifd)er „Kolonie“ und indifeßem
Altertum feßwebte, mit einer gefühlsmäßig berechtigten, dem Bilden abträglichen
Neigung nach Moghulßerrlicßkeiten, die ja gewiffermaßen Vorfpiel waren bunter Ver-
arbeitung weftlicher Gemeinpläße, von einem trotj allem noeß lebendigen indifeßen
Formgefüßl, und fo nach einem 3wifcßenakt von drei Jaßrßunderten von der jungen
Kunft als legitime Einführung in eigene Erudition dankbar übernommen wurden.
Diefe Renaiffancebewegung ift Reaktion gegen britifeßen Äkademieexport, der je-
weils um zwei Generationen hinter weftlicßer Gegenwart zurück, fieß ebenfo zivili-
fierend breitmacht wie deutfeße Öldrucke nad) Ravi Varmas Originalen, der felbft
wiederum der vitalfte Vertreter des europäifierenden fjiftorienbildes war, das gierig
indifeße Mythe ins didee Fleifcß der Ölfarbe kleidete. Diefem aud) jetjt nod) weitver-
breiteten Klandfcßmuck des indifeßen Fjeims enifprießt eine Gefamtausftattung, die Kliener
Bazargut vergangener Gefcßlecßter ins 3'immer und rund um die Büßne als Mittelpunkt
und Fjorizont ftädtifeßen Gefcßmadcs ftellt. Somit muß die Renaifj'ance ein 3weifad)es
überkommen, die eigene Desorientierung und den desintegrierenden Faktor, der fid)
ungefragt importierte. Erlöfung feßeint daßer ein Kunftnationalismus zu verfpreeßen,
der alles von außen Fjerankommende boykottiert und aus dem Ablauf der eigenen
Vergangenheit Eropfen des Lebenswaffers mit dem Sieb bewußter Auswahl zu feßöpfen
meint. Dod) das Fatale einer Reaktion liegt darin, daß die Klaffen, mit denen fie
kämpft, dod) nur aus dem feßon vorhandenen Material gefeßmiedet fein können. Am
widerfpenftigen Fremdkörper nüfet fid) das Ängriffsinftrument ab, während er felbft,
weniger und weniger greifbar, fid) fcßließlid) verflüchtigt. Docß diefer fäubernde, we-

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