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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Glück, Heinrich: Die Stellung Wiens in der neueren Kunst, 1. Teil
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0036

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Die Stellung Cöiens in der neueren Kunft1
I. Z e i 1 Von HEINRICH GLÜCK
Im Jahre 1918 ftarben Guffav Klimt und Otto CJagner. Noch) im [eiben Jahre folgte
ißnen der junge Schiele. Oskar Kokofcßka hatte die il}m feindliche Stadt verlaffen.
Damit war die letzte Kunftblüte tüiens zu Ende. — Nicht, daß es in der Nachkriegszeit
an Künftlern und Beftrebungen fehlte, aber unter jenen fand [ich keine überragende
Perfönlicßkeit, die führend die Schwächeren mitreißen und in neue Bahnen hätte drängen
können, und die vielen neuen Kunftvereinigungen, die damals auftauchten, verfchwanden
ebenfo fchnell wie [ie gekommen waren. Seitdem fließt das Kunftleben ttliens, [oweit
es vor allem die Künftlerfcßaft anlangt, träge daßim Es fehlt jener Schwung, der es zur
3eit der fräßen Sezeffion oder der erften Kunftfcßau befeelte. Die Ausheilungen, die das
Gegenwärtige und Bodenftändige fammeln wollen, haben zumeift retrofpektiven Charakter.
Fragen wir nach der Urfacße einer folcßen Erfcßeinung, fo können gewiß Gründe
politifcßer und wirtfcßaftlicßer Natur namhaft gemacht werden. Aber war es denn nicßt
immer [o, daß jene Blütezeiten fcßnell ißre Ulirkfamkeit verloren, um einer kleinlichen
Brötelei Plaß zu machen, in der felbft die guten Kräfte nicßt zu breiterer (Hirkfamkeit
gelangen? Freilich, auch andere Städte Europas haben ißre Blütezeiten, die auftaucßen
und vergehen. Aber diefe fteßen in irgendeiner Beziehung zum Gefamtgefcheßen der
Kunft, ißre Blüten find die größerer, allgemeinerer Bewegungen, die ficß abgrenzen und
durch Scßlagworte einteilen laßen, und die anderfeits auch ein allgemeineres Verftändnis
finden, mögen nocß fo feßr lokale CUerte die Erfcßeinungen differenzieren.
F)ier aber, in Cüien, ift das Eigenartige, daß die Blüten fo außerhalb alles anderen
in Europa Geläufigen fteßen, daß ißr „Stil“ woßl von den großen; europäifcßen Strö-
mungen Gebrauch macht, aber diefe in einer GCIeife umdeutet, die eine eindeutige Ein-
gliederung unmöglich macht, daß hier das Allgemeine zum Exzeptionellen wird und
desßalb von der größeren europäifcßen Allgemeinheit verkannt, von den dienern felbft
verlacßt, und erft, nachdem es verloren, zum Verhimmelten wird. Dann ift aber die
übrige öCIelt bereits weit darüber hinaus und ein Anfcßluß, eine Einteilung in das ge-
mein europäifcße Kunftleben nicßt meßr möglich.
die anderorts kaum in diefem Maße tritt dann eine Spaltung ein, in der die einen
glauben, in der Nachahmung des Fremden aus zweiter oder dritter Fjand ßöcßft radikal
zu fein, während die andern in ein kleinliches Kräßwinkeltum verfinken, das der 3ßit
nicßt meßr gerecht wird. So erfcßeint die Kunft diefer Stadt, wo fie radikal fein will,
international epigonenhaft, wo fie wienerifcß fein will, kleinbürgerlich konfervativ, wo
fie aber ißr eigenftes zur Blüte bringt, unverftändlicß und exzeptionell.
Dafür liegen aber die Gründe nicßt in augenblicklichen politifcßen und wirtfcßaft-
licßen Verßältniffen. Das künftlerifcße Scßickfal diefer Stadt ift durch ißre eigentümliche
Lage in ißrem weiteren oder engeren Umkreis beftimmt. — deften und Often treffen
ßier aufeinander. Auf der einen Seite die alte, auf eine vielßundertjäßrige Entwick-
lung zurückblickende wefteuropäifcße Fjocßzivilifation mit ißrer großftädtifcßen Kultur,
die in ißren Erzeugniffen bis ins letzte Dorf eindringt, eine Kultur, in der die Erfcßei-
nungen in fefte Gefeße gefpannt, die Cat des einzelnen zum Syftem wird, in der die
Sinne und der Verftand ßerrfcßen, die Mode ein wecßfelndes Bild von Äußerlichkeiten
bietet und um den Menfcßen gefellfcßaftlicße Schranken gezogen ßnd, die er kaum je
zu durchbrechen wagt, ißn zur Mafcßine machen. — Dort im Often aber, kaum meßr
als fünfzig Kilometer von der Stadt erreichbar, junge Völker, innerhalb derer die Städti-
fcße Siedlung einen infelßaften Fremdkörper bedeutet, in der jeder Menfcß auf ßcß
felbft und den Mutterboden angewiefen ift, aus dem er mit eigenen Bänden Nahrung,
Kleidung, doßnung und Gerät ßerftellt; die Individualitäten find kaum differenziert, Volks-
1 Die Abbildungen mußten aus tecßnifcßen Gründen für die Fortfetjung zurückgeftellt werden.

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