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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Glück, Heinrich: Die Stellung Wiens in der neueren Kunst, 1. Teil
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0037

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lied und volkskünftlerifcße Betätigung wachsen aus freiem Naturgefüßl, die Volkstracht wird
zum felbftgefcßaffenen Ausdruck eines Unbewußten. — Man muß etwa ein Bild des Deutfcß-
amerikaners George Grosz der farbenfreudigen Stickerei eines flowakifcßen Bauernmäd-
chens oder einem flawifcßen Volkslied gegenüberftellen, um diefen ganzen ungeheuren
Kontraft wefteuropäifcßer 3ivilifation und ofteuropäifcher Volkskultur in künftlerifcßen An-
fchauungsformen ganz begreiflich zumachen. In der Mitte beider Pole fteßtGüien als Brennpunkt.
Güie hier die ganz Güefteuropa durchziehende Älpenwelt unmittelbar an die letjten
Ausläufer des ofteuropäifcß-afiatifcßen Flachlandes ftößt, und doch in dem das Güiener
Becken umfäumenden Kahlen- und Leithagebirge ein fanft vermittelnder Ausgleich ge-
troffen ift, fo wächft Güien — allein unter allen europäifchen Großftädten — nicht
aus einer national oder wirtfchaftlich eindeutig beftimmten Umgebung. Ein Kreis
von bloß hundert Kilometern, um die Stadt gezogen, genügt, um darin die ver-
fcßiedenften Nationen und Güirtfcßaftsformen zu verfammeln. Radial um die Stadt
gelegen, treffen wir den kernigen Alpendeutfcßen, den froßßinnigen Mittelgebirgler,
den befitjftolzen Bauern der niederöfterreicßifcßen Ebenen, wir treffen den mufik-
liebenden Cfcßecßen des böhmifch - mäßrifcßen Cafellandes, den anfprucßslofen flo-
wakifcßen Kleinßäusler, den feurigen Magyaren und den in feinen Liedern fcßwer-
mütigen Südflawen. Sie alle — mögen die politifcßen Grenzen noch fo willkürlich ge-
zogen fein — finden in der zentralen Großftadt einen ausgleichenden Boden. 3eigt
fid) dies fcßon äußerlich, wie etwa in den Namen der Bürger diefer Stadt, fo findet
diefe Vielgeftaltigkeit des Bodens und der Bevölkerung auch künftlerifcß ißren Aus-
druck. Man denke zunäcßft an die vielerlei gegenftändlicßen Vorwürfe, denen fiel) die
Güiener Maler gewidmet haben; an die Alpenmaler von dem alten Steinfeld über Gauer-
mann und Güaldmüller bis zu den beiden Alt, dagegen die Pufztaftudien Pettenkofers,
dann wieder die duftigen Praterauen Schindlers, üüaldmüllers Güienerwaldbilder und
die niederöfterreicßifcßen Bauern- und Volksbilder von Krafft, Eybl, Ranftl, Karl
Scßindler ufw., fcßließlid) wieder die Karpatßenlandfcßaften fjolzers. Eine unendlich
differenzierte Landfcßaft und deren Lebensformen boten unendlich vielfeitige Vorwürfe.
So aueß die Stadt felbft in ißrer Gefamtßeit, im einzelnen und in ißren verfeßiedenen
Lebensformen. Von jener in die Güiener Landfcßaft verlegten „Flucht nach Ägypten“
des 15. Jahrhunderts im Güiener Scßottenklofter angefangen, ßat das Güiener Stadt- und
Sittenbild einerfeits in Rudolf v. Alt, anderfeits in Fendi und Danßaufer feine be-
fondere, bis heute fortlebende Ausprägung gefunden.
So ßat die differenzierte Umgebung feßon in der gegenftändlicßen Auswahl die
GUiener Kunft differenziert. Diefe Vielgeftaltigkeit feßafft unendlichen Reichtum, fcßärft
dureß den Kontraft den Blick fürs Befondere, aber ße ßat auch ißre Gefahren. Einer-
feits ift es ßöcßft bezeichnend, wie faft alle diefe Künftler eben ißr befonderes Feld
haben, ißre Kraft allein auf diefes oder jenes Gebiet verwenden. Ißr GUienertum ift
immer nur ein Ceil des GUienerifcßen, und wo die Kraft feßlt, auch nur diefen Ceil
ganz zu erfaffen, ßnkt es leicßt zum Kräßwinklertum herab. Anderfeits verleiht aber diefe
Vielgeftaltigkeit dem GCIiener wie keinem anderen Großftädter die Gabe der Einfühlung
in das Verfcßiedenartige, und wie kein anderer ift er um fo leichter geneigt, feinen
eigenen Boden, deffen Vielheit er nießt meiftern kann, aufzugeben und ficß der fremden
Mode in die Arme zu werfen. GUie das Güiener Leben, fo fpielt auch die Güiener
Kunft zwifeßen Kräßwinklertum und nacßgefüßltem Internationalismus, zwifeßen ßeimats-
ftolz und Sucht naeß fremder Mode. Es ßnd Po le, die nur feßwer ficß im Einzelnen vereinigen
laffen. Und fo feßeint es zunäcßft tatfäcßlicß nur zwei Möglichkeiten für die Güiener
Kunft zu geben; entweder ficß ftill auf den Ceil zu befeßränken und darauf feine ganze
Kraft und Liebe im Sinne lokaler Güirkfamkeit zu werfen — oder: ein Fremder zu werden.
Güo aber gäbe es dann eineGüienerKunft,dieKunft,die diefen vielgeftaltigen Boden in feiner
Gefamtßeit entfpricßt.die Kunft diefer Stadt,die an demGüeften undOften Europas Anteil ßat?
Blicken wir zunäcßft weiter zurück, auf jene Baudenkmäler, die als 3eugen ver-

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