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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Glück, Heinrich: Die Stellung Wiens in der neueren Kunst, 1. Teil
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0038

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gangener Blüten auf uns gekommen find. Da fcßeint Klien freilich) nur an den auch)
im übrigen Klefteuropa verbreiteten Strömungen teilgenommen zu haben, wie fo viele
andere Städte. Gotik, Renaiffance, Barock und Rokoko folgen aufeinander. Aber man
follte meinen, hier, am öftlicßften Ende wefteuropäifcßer Kulturgemeinfcßaft, fei es nur
ein Aus- und Abklingen diefer Strömungen, die gerade noch) Kraft genug haben, ver-
einzelte infeltjafte Vertreter nach) dem weiteren Often zu [enden, Und doch) find diefe
Bauten keine kleinlichen Ableger diefer weftlichen Stile. (Hie wenn fiel) deren Kraft
an diefer Grenze brechen und emporftauen würde, fteßen hier noch Leitungen, die den
übrigen weftlichen an Monumentalität die Klage haken können. Aber fehen wir näher zu,
fo bemerken wir, daß es nur das äußere Kleid ift, das diefe Bauten den weftlichen Stilen
entnommen haben, ihr Kiefen ift ein völlig anderes, einmaliges und exzeptionelles geworden.
Gotik — der Stefansdom: Das Ineinanderweben fo vieler Stilepochen von der Ro-
manik bis zum Barock zu einem Ganzen, wäre an fich kein Merkwürdiges, wenn hier
nicht die ganz außerordentliche Einfühlung das zeitlich Verfcßiedenartige zu einer ßöcßft
eigentümlichen Einheit verfcßmolzen hätte (Abb. 1). Klo fonft treffen wir neben der dop-
peltürmigen Faffade die den Bau zur Kreuzform wandelnde Anlage zweier als Querfcßiff-
hallen verwendeter Fjocßtürme; wo fonft diefe merkwürdige Verfcßleifung von Baßilika
und Fjallenfyftem, das als ein befonderes Merkmal bößmifcßer Oftgotik mit anderen
Befonderheiten nach dem Kleften zurückflutete. Klährend alle anderen oftgotifchen
Dome mehr oder weniger ihre Abkunft und, trotj individueller 3ügß, ihre Sagehörig-
keit zur allgemein gotifcßen Schichte erkennen laffen, fteßt diefer Dom in fo vielem
allein, am deutlichsten aber in feinem ausgebauten üurm. Klas fonft im gotifcßen
Kurmbau ganz Europas — mögen die Löfungen noch fo verfcßieden fein — als ein
durchgehendes Syftem erfcheint, das klare Abfeijen des mit dem Kirchenkörper ver-
fchmolzenen quadratifchen Unterbaues, des achteckigen Curmkörpers und des (vielfach
fehlenden) Eurmßelmes, ift hier zu einer kaum trennbaren Einheit verfcßmolzen. Klie
freiftehend erhebt fich der Curm neben der Kirche — und da ift es bezeichnend,
daß unmittelbar vor der Südgrenze Kliens der freifteßende Curm an der Kirche von
Percßtßoldsdorf als nördlichster Vertreter fogar des italienifcßen Campanilefyftems
fteßt. Schon im Grundriß eigentlich nur aus vier riefigen gewinkelten Strebepfeilern
befteßend, wird die Trennung zwifcßen dem weit über den Kircßenkörper ßinaus-
wacßfenden Unterbau und den Mittelteil kaum merklich, um f° weniger, als die Qua-
dratecken in Form ßoßer Fialen neben dem Achteck weitergefüßrt find und diefes und
den Fjelmanfatj verbergen. Die horizontalen verfcßwinden in den überleitenden Klim-
pergen und wie ein anzeigender Springbrunnen in kaum merkbaren Abfä^en die Flöße
erklimmt, wäcßft diefes Klunderwerk ficß allmählich) verjüngend, bis zur Spitze.
Fragen wir uns hier, was Kliener Kunft ift: Das ift nicht das Ergebnis eines bloßen
Keiles aus dem Vielfältigen des Kliener Bodens, das ift aber aud} kein epigonenhaftes
Nacßempfinden des wefteuropäifcßen Stiles, hier hat ein Meifter ein Außergewöhn-
liches gefcßaffen, der fäh)ig war, den ganzen Kleften in ficß aufzuneßmen, das gemein
weftlicße Syftem bis zur letzten Konfequenz zu füßren, aber es auch) feiner Syftematik
zu entkleiden. Aus der ftrengen Gefefemäßigkeit ift hier die freie öftlicße Melodie
geworden, die die tektonifcßen Normen ins Scßmuckhaft-Verfcßmelzende umbiegt. Gotik
ift ßier etwas anderes geworden als im Kleften, fie konnte es nur werden, wo die
Möglichkeit der Einfühlung ins Internationale, aber auch) der fcßöpferifcße Reichtum
örtlicher Vielgeftaltigkeit gegeben war und von einem Großen gemeiftert wurde.
Aber nicßt nur St. Stefan allein hat diefes Außergewöhnliche der Kliener Gotik.
Aus mancßem andern, das die nach) Syftemen fucßende Kunftgefcßicßte ebenfo gefliffent-
licß übergeht, als es ficß nicßt kurzweg ein fch) achteln läßt, fei nur noch) ein Beifpiel ßeraus-
gegriffen, die Kirche Maria am Geftade, an der neben anderen üngewößnlicßkeiten
die prachtvolle Löfung des ßiebeneckigen, zwifcßen Schiff und Cßor eingeftellten Curmes
mit feinem kuppelartigen Fjelm woßl einzig dafteßen dürfte (Abb. 2). (Fortfe^ung folgt.)

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