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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Wolfradt, Willi: Graphik von Charles Crodel
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0948

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DER GRAPHIKSAMMLER
Unter der Leitung von Dr. Erich Wiese, Breslau V

Graphik von Charles Crodel
Mit sechs Abbildungen auf drei Tafeln und einer Abbildung im Text Von WILLI WOLFRADT
Nricßt als Spezies der 3°ologie und nicht fymboliftifcß zeichnet der junge Crodel die
Giere und mcßt pfycßologiftifcß noch idealißerend die Leute und Menfcßenkinder.
- Seine Änfcßauung der Natur ift weder fpifeßndig, neugierig oder novelliftifcß —
nod) ßeroiperend oder abftrakt. Crodel verkörpert (neben Änderen, aber in feßr eigener
und befonders eindringlicher Kleife) die unferer Gegenwart wiedergewonnene Möglich-
keit, das lebendige Leben als ein vielgeftaltiges Beharren und gleicßfam als einen weiten
Bekanntenkreis zu erblicken und andächtig-beluftigt zu fcßildern. Er ift ein Erzähler
des einfach Seienden. Äus einem heute feßr geweckten Bewußtfein heraus davon, daß
wir Menfcßen der ftädtifcßen 3ivilifation unfere Formen und unfere Kiefenskraft in über-
ßaftetem Klecßfel verändern müffen, wenden wir uns aufs neue gern denjenigen Er-
fcßeinungen der Umwelt zu, die, von allen Metamorpßofen der Gefcßichte unberührt die
Äutonomie des gleichmäßigen, fiel) felbft nur immer wieder erneuernden Dafeins reprä-
fentieren. Äus folcher Seßnfucßt heraus pnd nun Eiere, Gewächfe, Landvolk und fchlichte
Geräte in unferem Empfinden neu beheimatet. Sie find das zugleich abfeits von unferen
eigenen (Hegen Gedeihende und daher aus der Diftanz Beneidete und kaum Begreif-
liche — und find wiederum das Vertraute, das feit jeher und mit dem myftifcßen Nach-
druck des „feit jeher“ uns 3ugeßörige, die unabänderlichen Fibelfiguren der Erde, ihre
ehrwürdig-behäbigen Konftanten. Crodel freut fiel), das große Bilderbuch der würdig-
drolligen Selbftverftändlichkeit, des naiv-zeitlofen Lebens aufzublättern. Seine künft-
lerifche Äusdrucksweife tut überzeugend dar, daß der modernen Bildfprache die tiefe
und fröhliche, erhaben-humorvolle Einfalt diefer Invarianten der Schöpfung auf ihre
Ärt wieder ßcßtbar und faßbar geworden ift, wie pe es dem ägyptifeßen Fresko bei-
fpielsweife, den frühen holzfcßnitten bei uns, den indoperfifeßen Miniaturen um 1700
und aller Volkskunft war. Crodels Schaffen läßt fieß tragen und treiben von dem rußigen
Bewußtfein eines majeftätifcß- heiteren Immerwäßrens, wie es den anonymen Verfaffer
alter Lebkucßenformen, Kacheln oder Friefe mit feinem fromm ergötzten Publikum ver-
bunden ßat, und um das unfer Künftler bei feinem jefeigen wieder wirbt.
Cßarles Crodel ift 1894 in Marfeille geboren und erft mit 15 Jahren endgültig nach
Deutfcßland gelangt. Vor dem Kriege kam es kaum meßr zu einem künftlerifcßen Studien-
gang. Erft 1920 bildete fiel) Crodel handwerklich aus als Litßograpß, in dem Klunfcße,
das Gefüßl für handwerkliches gründlich in fieß zu befeftigen. (Crodel druckt jede
Grapßik felbft.) Dann kamen Reifen nach Italien und Schweden. Dies die fpärlicßen
Daten eines kaum noch recht angebrochenen äußeren Lebens, dem eine reizende Jugend-
lichkeit der künftlerifcßen Fjaltung entfprießt: ein unverzügliches, freies, zugleich nach-
denkliches, ja träumerifeßes hinzeichnen, eine liebenswürdige üngelenkßeit voller Staunen
und Eappen, ein 3ug zum feltfam Großen, zur unkontrollierten Befeeltßeit der Kiefen.
Die Unmittelbarkeit der Naturbezießung läßt keinen Raum für irgendwelche Dogmatik
der Geftaltungsmetßode, oßne doch etwa reßexionslofer Reproduktion fieß zu näßern.
Sie bezeugt pcß in einer Sprache, die anfcßaulicß ift und docß wie in pcß vermummt,
einfach und docß rätfelnd, offen und docß hintergründig. Diefe Unmittelbarkeit ift nir-
gends Indiskretion oder Anbiederung — fie ift eine der ehrfürchtigen heiterkeit. Crodel
ift kein Plauderer nocß ein bukolifcßer Sänger — er nennt das Eier unter einem ganz
von feiner rußenden Geftalt erfüllten Bilde, mit der zarten, zärtlichen Kürze japanifeßer
Eierverfe, wennfeßon in einem herberen, feßwereren Eon, mit einer Kürze rneßr der Ge-
drängtheit als des Ändeutens.

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