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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Passarge, Walter: Der Kruzifixus aus Heinrichs
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0259

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Eine [trenge Ordnung beherrfcl)t den Aufbau des Ganzen. Die feitlidje Neigung
des Kopfes und des rechten Unterarmes wird beantwortet durd) die Diagonalfalten der
linken Schamtuchfeite. Der vertikale 3ipfel rechts [teilt das Gleichgewicht wieder her.
Ähnlich ift auch die räumliche Korrefponfion: ift die linke Fjand vor die rechte gefdjoben,
fo tritt andererfeits der rechte Fuß vor den linken. Durch die leichte Neigung des
Kopfes oben, die fchwache Drehung des rechten Beines unten, kommt ein leichter Fluß
organifchen Lebens in die Lotenftarre des Körpers. Die ftrenge Vertikale der Mittel-
achfe wird umfpielt von der zarten, kaum hörbaren Melodie der gotifchen S-Linie. Die
Diagonalbewegungen des Kopfes, des Lendentuchs und des rechten Fußes kämpfen
gegen die Vertikalachfe an. Beim Kopf wird diefe Spannung zwifchen Vertikale und
Diagonale in den beiden Haarlocken deutlich- Leitet die linke zur Schräge des linken
Oberarms über, fo vermittelt die rechte den Anfd)luß an die Vertikale des Rumpfes.
Nod) einleuchtender wird diefe Gegenfä^lichkeit im Antlitj des Loten, das in fiel) wieder-
um genau fymmetrifd) durchgearbeitet ift bis auf die beiden Falten der Oberlippe, die
nicht mehr genau der Diagonalrichtung der Nafe folgen, fondern bereits leife die Vertikale
des Körpers intonieren. Diefe wird begleitet von den HoAzontalbewegungen des Bruft-
beines, der Rippen und des oberen Schamtuchrandes, die [ich in leichter Biegung dem
flachen Rund des Körpers anfehmiegen. Befonders feip ift die Art, wie die nach oben
aufgebrochene Horizontale der beiden Unterarme in der Raffung des unteren Lenden-
tuchrandes zwifchen den Knieen noch einmal aufklingt.
Das Geheimnis der über alles Natürliche h'naus9ehenden überirdifd)en Ulirkung des
Ulerkes liegt nicht zuletjt in der mathematifchen Strenge der Formenftruktur. Eine
geheime Geometrie durchwaltet die Figur in allen ihren Geilen. Das Dreieck, und
zwar vorwiegend das gleichfd)enklige Dreieck, ift das Grundelement diefes „primitiven“
Stiles im 14. Jahrhundert1. Bereits der Kopf ift in lauter kantige Dreieckzonen auf-
geteilt. Die Arme bilden je ein Dreieck mit fd)räg nach unten gerichteter Spitze; ver-
bindet man die Ellbogen mit dem höchften Punkt der Dornenkrone, fo entfteht eben-
falls ein gleichfchenkliges Dreieck. Ebenfo lafftn fich Bauchhöhle, Lendentuch und Beine
zu den gleichen geometrifd)en Formen zufammenfaffen oder in fie zerlegen. Selbft die
Raumteile, die von der plaftifchen Form eingefangen und zum Erklingen gebracht werden,
formen fich zu kleinen fci)attigen Dreiecksgebilden: fo zwifchen Hals, Schulter und rechter
Haarlocke, zwifchen den beiden Armen und endlich zwifchen den Knieen.
Hinter dem Loten ragt das Kreuz, deffen Kreuzung und Arme zu quadratifd)en Lafeln
verbreitert find. Die Endplatten der Arme tragen die in Lempera aufgemalten Evan-
geliftenfymbole mit Schriftbändern. Oben Johannes, feitlicl) Matthäus und Lukas, unten
Markus. Das Haupt ftel)t vor dem fcü)räggeneigten Nimbus mit aufgemaltem, fpät-
gotifchem Befchlagornament.
Es unterliegt keinem 3weifel, daß der Kruzifixus aus Heinrichs unter dem Eindruck
des bereits genannten Kruzifixus in der Neumünfterkirche zu lüürzburg, der um 1340
entftanden fein muß, gefeßaffen worden ift. (Der Ort Heinrichs gehört bereits zum frän-
kifchen Sprachgebiet.) Lrotjdem unterfdßeidet fich das CUerk auch wieder in wefentlichen
3ügen von dem CUürzburger Stück, fo daß es als feßr felbftändige Arbeit erfeßeint. Material,
Größe, Proportionierung, Faltenbehandlung und Haltung der Arme gehen weit ausein-
ander. Abweichend in manchem — trotj der fehr verwandten „keilförmigen“ Nafe —
ift auch der Kopf. Er ift breiter, eckiger; Bart und Haare find völlig anders gebildet.
Oier fd)eint in Heinrichs ein norddeutfd)er Lypus hindurchzuklingen, wie ihn etwa die
^ra9fi9ur des Feuers vom Laufbecken in der Roftocker Marienkirche (1290) draftifch
verkörpert, die den Kopf eines alten Fifchers trägt2.
Stiliftifd) gehört das Ulerk in jene Phafe der gotifchen Skulptur, in der vor dem Ein-
igen des gefchwungenen Stils primitive Elemente noch einmal ftärker hervortreten.
1 Vgl. die Vefperbilder auf der Vefte Koburg und im ürfulinenklofter zu Erfurt.
2 Hamann, Deutfdje Köpfe. Magdeburg 1922. Caf. 58.

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