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Münchner kunsttechnische Blätter — 15.1918-1919

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Nr. 21
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Die künstlerische Proportionslehre von Vitruv bis Dürer [1]
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Mächen, 21, Juli 1919.

Beilage zar „Werkstatt der KHatt" (E. A. Seamaaa, Leipzig).
Er3aheiet!4tägig cater Leitnag ves Maier Prof. Eraat Berger.

IY. jahrg. Nr. 21

Inhalt: Die künstlerische Proportionsiehre von Vitruo bis Dürer.
— Hugo Hillig: Die dekorativen Techniken. (Schluss.)
Museen. Von Ernst Berger. (Schluss.)

25 Jahre Münchner Maltechnik 11. Von E. B-
Die Aufgaben des Konservators in unseren

Die künstlerische Proportionslehre von Vitruv bis Dürer.

Einführung.
Zu allen Zeiten der künstlerischen Produktion
ist der Darstellung der menschlichen Gestalt ein
besonderes Augenmerk entgegengebracht worden.
Von dem einfachen Nachahmen der menschlichen
Figur bis zur höchsten Vollendung dieses Be-
strebens sehen wir stets eine Art Idealfigur, einen
Typus des schönen Menschen als Vorbild der
künstlerischen Schaffenstätigkeit. So wird, ich
glaube in London, eine altägyptische Zeichnung
aufbewahrt, die eine sitzende Götterfigur in einer
Art Quadratnetz eingezeichnet darstellt und als
Kanon für die Proportionen einer derartigen Figur
angesehen wird. Möglicherweise ist diese Zeich-
nung aber nichts anderes als eine Vorlage, und
die Einteilung des Netzes hatte nur den Zweck,
bei der Vergrösserung auf das Mehrfache der-
selben als Handhabe zu dienen. Bei dem grie-
chischen Schriftsteller Diodot (I, $8) findet sich
eine Notiz, die von ägyptischen Priestern erzählt,
die griechische Kunst hätte grundlegende Regeln
aus Aegypten erhalten, und dabei wird bemerkt,
dass diese Künstler nach einem bestimmten Kanon
gearbeitet hätten, indem sie den ganzen Körper
in 2iV^ Teile teilten.
Nach den Mitteilungen von dem Aegypto-
logen Lepsius hätten sie jedoch zu drei ver-
schiedenen Perioden auch drei verschiedene Pro-
portionalgesetze verfolgt. Der älteste Kanon aus
einer Grabkammer der Pyramidenfelder bei Mem-
phis, welche in die vierte bis sechste Dynastie
Manetho gehören (etwa 3000 Jahre v. Chr.) teilt
die Höhe der Figur genau in sechs Fusslängen,
so jedoch, dass die Scheitelwölbung noch über
die sechste Abteilung frei hinausragt. Der zweite
Kanon rührt aus der Blütezeit des pharaonischen

Reichs; er zerlegt die Fusslänge in drei Teile
und bildet aus solchen Dritteln nun Quadrate, in
deren Gesamtzahl die Figur eingeschlossen ist,
und zwar wieder so, dass 18 Quadrate die Höhe
der Gestalt bis zur Augenbraue bestimmen, wo-
bei dann die Scheitelwölbung noch frei heraus-
ragt. Es ist also dieser Kanon ziemlich wieder
der erste, nur mit mehrfacher Teilung. Der dritte
Kanon endlich rührt aus der Ptolemäerzeit her.
Er unterscheidet sich von dem vorigen dadurch,
dass er die Höhe der Gestalt immer wieder mit
Ausschluss der Scheitelwölbung, welche gleichsam
der freien Willkür des Künstlers hingegeben blieb,
nicht in sechs, sondern in sieben Fusslängen teilt,
so dass, da die Quadrate wieder ein Dritteil des
Fusses betragen, die ganze Gestalthöhe 21 solcher
Quadrate misst. Hiernach scheint also dieser
letzte Kanon der von Diodot erwähnte gewesen
zu sein, und die Höhe der Schädelwölbung auf
Fuss berechnet zu sein (s. Zeising, Proportionen
des menschlichen Körpers, Leipzig 1854, S. 40).
Dass zur Zeit der Blüte altgriechischer Kunst
die Regeln der Proportion eine grosse Bedeutung
erlangten und von den einzelnen Schulen gewissen-
haft befolgt wurden, zeigte nicht nur die Gleich-
mässigkeit der erhaltenen Denkmäler, wir wissen
auch aus. alten Quellen, dass hervorragende Künst-
ler gerade der Proportionslehre der Eurythmie und
Symmetrie ihr besonderes Augenmerk zuwandten.
Ganz besonders wird der altgriechische Bildhauer
Polyklet als Autor einer Schrift gerühmt, deren
Inhalt zweifellos für seine Nachfolger als Kanon
des Ideals vollkommener Mannesschönheit gegolten
haben wird. Diese und ähnliche Schriften*) sind
*) Von Euphranot aus Korinth (um 360 v. Chr.)
einem ungemein vielseitigen Künstler, Maler und Pia-
 
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