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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 1.1909

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4. Heft
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Aubert, Andreas: Über Norwegische Bauernkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.24117#0140

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126

Der Cicerone

Heft 4

Anregungen in dem, was die letzten Jahrhunderte aufblühen ließen, als in den Über-
lieferungen des fernen Mittelalters. Die übertriebene Verherrlichung des Mittelalters
von seiten unserer älteren Architekten hat große und wichtige Werte in den Schatten
gestellt, die die Kultur der letzten Jahrhunderte für uns aufgehoben hat.

Vor allen Dingen gilt es, den norwegischen Farbeninstinkt zu Hilfe zu rufen,
Wir bedürfen so sehr der Farbe in unserem „Winterland“. In unserem Lande, das
den größten Teil seines Materials für Bauten und Hausgerät aus seinen Fichten- und
Tannenwäldern holt, findet das Malerhandwerk ein größeres Wirkungsfeld, indem es
eine reichere Möglichkeit hat, den Rohstoff zu veredeln, als es bei den meisten
anderen Kulturvölkern der Fall ist. Auf diese Weise läßt sich eine eigenartige nor-
wegische Volkskunst beleben, die Licht und Freude in jedermanns Haus und Hütte
bringen kann.

Norwegischer Farbeninstinkt — das lautet vielleicht chauvinistisch. Nor-
discher Farbeninstinkt klingt schon besser. Nationaler Farbeninstinkt, das ist der
begriffsmäßige Ausdruck, und in diese Form gebracht ist derselbe zu allgemeiner
Gültigkeit erhoben.

Ich habe bei meiner Doktorvorlesung „Die dekorative Farbe — ein norwegischer
Farbeninstinkt“ im Jahre 1896 dieses Gesetz aufzustellen mir gestattet, um die Grund-
lage für ein Fortschrittsprogramm unserer künstlerischen Kulturarbeit zu schaffen. —
Damals führte ich aus: Was ich allein in einigen Bergtälern an dekorativer Malerei
gesehen habe — aus der Renaissance wie aus der Rokokozeit — übertrifft an Schön-
heitswert selbst meine kühnsten Erwartungen. Eine Vielseitigkeit, größer als ich sie
vermutet hatte, ein Adel oft, wie ich ihn nicht geahnt; eine reiche und eigenartige Farben-
lust, oft freilich auf Moll gestimmt. Immer aber männlich. Und was das Erfreuliche ist,
dieser Farbensinn ist noch nicht überall ausgestorben, er lebt noch hier und dort, beson-
ders in den Gegenden des Landes, wo die Nationaltrachten noch im Gebrauch sind.
Alles dies hat es mir immer klarer werden lassen, daß unser Volk auch einen eigenen
Farbeninstinkt besitzt. Niemand zweifelt daran, daß unser Volk sein eigenartig musi-
kalisches Temperament hat, das in unseren Volksmelodien lebt und das so eine
lebendige Kraft für die Kunst unserer Musiker geworden ist. Die Übereinstimmungen
zwischen dem Musikalischen und Koloristischen, die in den natürlichen Grundlagen
beider Elemente gegeben sind und die sich in einer entsprechenden physiologischen
Wirkung äußern, legen es nahe, von dem einen Gebiet auf das andere zu schließen.
Und ich meine, wir müssen diesen Schluß ziehen. Ich glaube an ein eigenartiges,
reiches und kräftiges Farbentemperament des norwegischen Volkes. — Besonders
zwei Erfahrungen haben meinen Glauben zu einer sicheren Überzeugung erstarken
lassen. Das sind zunächst alle die Eindrücke, die ich selbst vom Farbensinn in unserer
Bauernkunst erhalten habe; von gewebten Teppichen und Stickereien, von Rosenmale-
reien, ausgemalten Schnitzereien, von Nationaltrachten usw. Und weiter gründet sich
meine Überzeugung auf Gerhard Munthes neue Kunst. Hier haben wir bereits einen
Maler, der seine dekorative Kunst auf norwegische Überlieferung abstimmt, auf den
ausgeprägten Farbeninstinkt der Volkskunst. Als Farbenkomponist folgt er den Spu-
ren der Tondichter Oie Bull, Nordraak und Grieg. Das ist das Geniale in Munthes
 
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