Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 1.1909
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https://doi.org/10.11588/diglit.24117#0374
DOI Heft:
11. Heft
DOI Artikel:Patzak, Bernhard: Ein neuer Tiepolo
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Der Cicerone
Heft 11
Veroneses; besonders der Balkon, von dem
Damen herabschauen, die einen kostbaren Tep-
pich über die Balustrade breiten. Auch die Wahl
eines tiefen Augenpunktes entspräche Paolos
Kompositionsweise. Doch zahlreiche Einzel-
heiten wie z. B. die Proportionen der darge-
stellten Personen, die viel zierlicher und ver-
feinerter als Veroneses Menschen aussehen,
ferner die typische, verhältnismäßige Kleinheit
der Köpfe, die Kostümierung der Agierenden,
die Modellierung der Gewänder und Körper in
Licht und Schatten, die Gebärdensprache usw.,
sind so echt tiepolesk, daß eine Zuschreibung
an Veronese völlig verfehlt wäre. Bemerkens-
wert ist das Kunstwerk auch besonders inso-
fern, als sein landschaftlicher Hintergrund liebe-
voller behandelt ist, als das sonst bei Tiepolo
üblich zu sein pflegt. Das trefflich erhaltene
Bild stellt Rebekkas Abschied vom Vaterhause
(Gen. XXIV, 59—61) dar. Ein Teilstück des-
selben wurde seinerzeit von Ä. Gabrieli auf
Kupfer gestochen, ein Beweis, daß es als Kunst-
werk geschätzt war. Leider ist mir jedoch nur
ein Exemplar dieses Stiches bekannt geworden,
auf welchem linkerhand der Name des Malers
ausgekratzt wurde. Die Unterschrift lautet: „Cum
Rebecca vocata venisset, sciscitati sunt, vis ire
cum homine isto. Quae ait vadam. Dimiserunt
ergo eam“. Rechts unten liest man, wie gesagt,
den Namen des Stechers „A. Gabrieli“ • links
jetzt nur noch: „. . . pinxit“.
Eine, wie es scheint, genaue Replik (Äbb. 2) zu
diesem Gemälde besitzt der Abt der Cisterzienser-
abtei in Sittich (Unterkrain), Hochwürden Herr
P. Gabriel Rüttimann, dem ich diese Mitteilungen
verdanke. Er erwarb sein Bild in sehr ver-
wahrlostem Zustande, da es jahrelang in einer
rauchigen Bierstube Schwabens gehangen hat,
und ließ es restaurieren. Die Retouche ist nach
seiner Meinung vielleicht nicht in allen Teilen
vollkommen durchgeführt worden. Welches nun
von beiden Gemälden das Original ist, oder ob
beide aus der Hand des venezianischen Meisters
hervorgegangen sind, das zu entscheiden, be-
darf natürlich einer eingehenden Prüfung der
in Frage stehenden beiden Objekte an Ort und
Stelle. Da ich noch lange Zeit weder Zeit noch
Gelegenheit hierzu haben dürfte, so überlasse
ich die Untersuchung dieser Frage dem Interesse
der Tiepoloforscher.
Der Cicerone
Heft 11
Veroneses; besonders der Balkon, von dem
Damen herabschauen, die einen kostbaren Tep-
pich über die Balustrade breiten. Auch die Wahl
eines tiefen Augenpunktes entspräche Paolos
Kompositionsweise. Doch zahlreiche Einzel-
heiten wie z. B. die Proportionen der darge-
stellten Personen, die viel zierlicher und ver-
feinerter als Veroneses Menschen aussehen,
ferner die typische, verhältnismäßige Kleinheit
der Köpfe, die Kostümierung der Agierenden,
die Modellierung der Gewänder und Körper in
Licht und Schatten, die Gebärdensprache usw.,
sind so echt tiepolesk, daß eine Zuschreibung
an Veronese völlig verfehlt wäre. Bemerkens-
wert ist das Kunstwerk auch besonders inso-
fern, als sein landschaftlicher Hintergrund liebe-
voller behandelt ist, als das sonst bei Tiepolo
üblich zu sein pflegt. Das trefflich erhaltene
Bild stellt Rebekkas Abschied vom Vaterhause
(Gen. XXIV, 59—61) dar. Ein Teilstück des-
selben wurde seinerzeit von Ä. Gabrieli auf
Kupfer gestochen, ein Beweis, daß es als Kunst-
werk geschätzt war. Leider ist mir jedoch nur
ein Exemplar dieses Stiches bekannt geworden,
auf welchem linkerhand der Name des Malers
ausgekratzt wurde. Die Unterschrift lautet: „Cum
Rebecca vocata venisset, sciscitati sunt, vis ire
cum homine isto. Quae ait vadam. Dimiserunt
ergo eam“. Rechts unten liest man, wie gesagt,
den Namen des Stechers „A. Gabrieli“ • links
jetzt nur noch: „. . . pinxit“.
Eine, wie es scheint, genaue Replik (Äbb. 2) zu
diesem Gemälde besitzt der Abt der Cisterzienser-
abtei in Sittich (Unterkrain), Hochwürden Herr
P. Gabriel Rüttimann, dem ich diese Mitteilungen
verdanke. Er erwarb sein Bild in sehr ver-
wahrlostem Zustande, da es jahrelang in einer
rauchigen Bierstube Schwabens gehangen hat,
und ließ es restaurieren. Die Retouche ist nach
seiner Meinung vielleicht nicht in allen Teilen
vollkommen durchgeführt worden. Welches nun
von beiden Gemälden das Original ist, oder ob
beide aus der Hand des venezianischen Meisters
hervorgegangen sind, das zu entscheiden, be-
darf natürlich einer eingehenden Prüfung der
in Frage stehenden beiden Objekte an Ort und
Stelle. Da ich noch lange Zeit weder Zeit noch
Gelegenheit hierzu haben dürfte, so überlasse
ich die Untersuchung dieser Frage dem Interesse
der Tiepoloforscher.