Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 1.1909
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DOI Heft:
15. Heft
DOI Artikel:Hildebrandt, Edmund: Ein neuer Falconet
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DERCICERONE
Halbmonäts s chrift
FÜR-DIE-lNTERES S EN -DES
Kunstforschers & Sammlers
I. Jahrgang 15. Heft 1909
Ein neuer Falconet
Von E. Hildebrandt
Die Entdeckung eines fast anderthalb Jahrhunderte verschollenen Kunstwerks in
unseren Tagen gibt mir Gelegenheit, einen Nachtrag zu meiner kürzlich erschienenen
Biographie Falconets]) zu liefern. Die Versteigerung des Nachlasses von Victorien
Sardou Ende April dieses Jahres (s. „Cicerone“ Heft 10) förderte das hier abgebildete
Relief zutage (Höhe 85, Breite 70 cm), das im Katalog als namenlose Arbeit aus dem
XVIII. Jahrhundert fungierte, um dann sehr bald mit dem längst verloren geglaubten
Alexander-Campaspe-Relief des Falconet indentifiziert zu werden, das man bisher nur
aus der Beschreibung Diderots im „Salon“ von 1765 kannte.
Ein Thema so recht nach dem Herzen der „France galante“: das Weib als
Spielzeug, als Tauschobjekt zwischen zwei Männern; ein Thema, das hier jedoch
unter des männlich-ernsten, fast sittenstrengen Falconet Händen eine ganz andere Be-
handlung erfahren hat, als sie ihm irgendein Meister der vorhergehenden oder mit-
lebenden Generation, etwa ein Vollblut-Rokokokünstler wie Boucher, hätte zuteil
werden lassen. Ein Hauch von Keuschheit liegt über der Szene, den man in all den
hundertfältigen Variationen des Themas „weibliche Nacktheit“ aus jenen Tagen nur
allzu selten, ja fast nie, zu spüren bekommt.
Was schon an Falconets allbekannten Darstellungen des weiblichen Körpers,
der Baigneuse im Louvre, der Galathee und den Grazien, der Camondo-Uhr den
eigentlichen Reiz ausmacht, erscheint hier in neuer Variante: jenes „Belauschen“ der
Nacktheit in rein künstlerischer Absicht, jene von allem bewußten Zurschaustellen, der
typischen Rokoko-Nymphen freie, fast schüchterne Behandlung der weiblichen Formen,
die im Bunde mit der so reizvollen „lassitude“ der Körperbewegungen die Klein-
’) Leben, Werke und Sdrriften des Bildhauers E. M. Falconet (1716—91), StraBburg
(Heitz u. Mündel) 1908.
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Halbmonäts s chrift
FÜR-DIE-lNTERES S EN -DES
Kunstforschers & Sammlers
I. Jahrgang 15. Heft 1909
Ein neuer Falconet
Von E. Hildebrandt
Die Entdeckung eines fast anderthalb Jahrhunderte verschollenen Kunstwerks in
unseren Tagen gibt mir Gelegenheit, einen Nachtrag zu meiner kürzlich erschienenen
Biographie Falconets]) zu liefern. Die Versteigerung des Nachlasses von Victorien
Sardou Ende April dieses Jahres (s. „Cicerone“ Heft 10) förderte das hier abgebildete
Relief zutage (Höhe 85, Breite 70 cm), das im Katalog als namenlose Arbeit aus dem
XVIII. Jahrhundert fungierte, um dann sehr bald mit dem längst verloren geglaubten
Alexander-Campaspe-Relief des Falconet indentifiziert zu werden, das man bisher nur
aus der Beschreibung Diderots im „Salon“ von 1765 kannte.
Ein Thema so recht nach dem Herzen der „France galante“: das Weib als
Spielzeug, als Tauschobjekt zwischen zwei Männern; ein Thema, das hier jedoch
unter des männlich-ernsten, fast sittenstrengen Falconet Händen eine ganz andere Be-
handlung erfahren hat, als sie ihm irgendein Meister der vorhergehenden oder mit-
lebenden Generation, etwa ein Vollblut-Rokokokünstler wie Boucher, hätte zuteil
werden lassen. Ein Hauch von Keuschheit liegt über der Szene, den man in all den
hundertfältigen Variationen des Themas „weibliche Nacktheit“ aus jenen Tagen nur
allzu selten, ja fast nie, zu spüren bekommt.
Was schon an Falconets allbekannten Darstellungen des weiblichen Körpers,
der Baigneuse im Louvre, der Galathee und den Grazien, der Camondo-Uhr den
eigentlichen Reiz ausmacht, erscheint hier in neuer Variante: jenes „Belauschen“ der
Nacktheit in rein künstlerischer Absicht, jene von allem bewußten Zurschaustellen, der
typischen Rokoko-Nymphen freie, fast schüchterne Behandlung der weiblichen Formen,
die im Bunde mit der so reizvollen „lassitude“ der Körperbewegungen die Klein-
’) Leben, Werke und Sdrriften des Bildhauers E. M. Falconet (1716—91), StraBburg
(Heitz u. Mündel) 1908.
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