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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Beenken, Hermann: Süddeutsche Steinmadonnen um 1300
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0092

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Strom der Empfindung. Der Blick der Mutter t)at keine aktive Beziehung zum Kinde
und fud)t aud) keine, die rechte Hand, bei der Lorenzer gefpannt und agil in kontraft-
reid)er Bewegung, vermag nur noch leife und wie willenlos an feinem Füßchen zu
fpielen. Das Sicßbewegen der Glieder überhaupt ift minder beßerrfcßt und von einem
geiftigen Benimm überwacht. Statt fid) gegen den Körper energifcß zu rühren, finken
die Ärme an feiner Seitwärtsfd)wingung willenlos ab, und aud) das Knie des Spiel-
beins fdjmiegt fid) der durchgehenden Kurve ein, ftatt in Gegenbewegung aus der
umhüllenden Gewandung herauszudrängen. ünperfönlid)e, wenn man will, lyrifd)e
Empfindung ift das Neue, dem 13. Jahrhundert noch Fremde, was diefe Kunft des frühen
14. Jahrhunderts bringt. Statt des aktiven Sid)rül)rens einer in [ich gefeftigten
Körperlichkeit, wobei der Charakter der Bewegung ein fpezififd)er war, genießt man
nunmehr das Sid)verlieren im Ällgemeinen unbeftimmterer Gefühlswallungen.
3ugleid) mit diefer (Handlung des geiftigen Gehaltes der Figur verlieren auch die
Einzelformen ihre alte Schärfe und Beftimmtheit. Die Falten fd)wellen weich auf;
aber nicht um fid) in plaftifcher Ifolierung gegeneinander ab- und in fid) auszurunden,
fondern um in dem Caftfinn unkontrollierbaren Übergängen fid) ineinander zu ver-
filzen. Die klaren Ränder werden vermieden, die Säume fd)längeln fid) wie fpielend,
irgendwelchen 3ufällen nachgebend. Mantel und üntergewand löfen fid) kaum mehr
voneinander1. Än Stelle des plaftifd)en Eigenlebens der Falten ift eine Vereinheitlichung
gefud)t, aud) hier find die fpezißfd)en Charaktere um der neuen Einheitsform des
Blockes willen gelöfd)t worden. Die neue Änfpannung der linearen Energien, die von
etwa 1330 ab diefe Einheitsform wieder zu gliedern ftrebt — Stilftufe Rottweil —, ift
aber nod) nicht eingetreten. Man wird die Niedermünftermadonna etwa in die Jahre
um 1310 oder 1315 datieren dürfen.
4. Madonna in Frauenauradj bei Erlangen
Äud) dem Meifter der Niedermünftermadonna können wir ein Spätwerk zuweifen
Es ift die fd)öne, wenig bekannte und noch nicht publizierte lebensgroße Muttergottes-
figur der ehemaligen Dominikanerinnenkirche des mittelfränkifchen Frauenaurach- Die
Figur hat gelegentlich eines Brandes etwas gelitten, vor allem in der Faffung. Die
Qualität ift der der Niedermünftermadonna durchaus ebenbürtig. Die Gleichheit der
künftlerifchen F)andfd)rift ift wohl fo unverkennbar, daß es kaum eines Nacßweifes im
einzelnen bedarf. Äuffcßlußreicher find die ünterfd)iede, die eine fpätere Änfe&ung der
Frauenauracßerin nötig machen. Die körperliche Fjaltung ift ftandfefter, die Ränder
fallen gerader, und auch im Inneren der Form find die Vertikalen und Horizontalen
betonter. Das Mitfichfelberbefchäftigtfein der älteren Figuren ift neuer repräfentativer
Hlürde gewichen. Das Kind fitjt ruhig, nicht mehr gegen die Mutter fpielend, das
Greifen der F>and gef<hiel)t fefter, mit ganzer Fläche, fachlich, nicht preziös mit einzel-
lebendigen Fingern. In der Maffe des Gewandblocks ift alles eigentlich körperliche
Leben verunklärt und unterdrückt. 3war regt fid) der Körper wieder etwas in
eigenen Gelenken. In den Schultern, in der Neigung des Kopfes, ift wohl mehr Frei-
heit als bei der Regensburger Figur, und auch das Knie des rechten Beines drängt
wieder etwas feitlid). Äber wo ift jetjt Spielbein und Standbein, wo ift der Körper
als felbftändige unter dem Gewände und gegen es fid) rührende Kraft? FJinter der
neu gewonnenen Blockform find die alten Energien und Kontrafte verpanzert; an
Stelle plaftifcher und mimifcher Gegenfätje find Rid)tungsgegenfäfee in der Fläche er-
ftrebt. Die alten Rundungen der Figur als ganzer wie der Falten im einzelnen, find
1 Die von Äd. Goldfchmidt (Gotifcbe Madonnenftatuen in Deutfcßland, Hugsburg 1923) befonders
betonten Veränderungen im Koftümlicben, baben ftilgefd)id)tlid) eine gewiffe fymptomatifcbe Be-
deutung. Die ftärkere Verhüllung der Bruft dient mit dazu, den Gegenfatj von innen und außen,
Körper und Gewand, üntergewand und Obergewand zu dämpfen.
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