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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Siemsen, Hans: Die unbekannte Renée Sintenis
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0330

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Die unbekannte Renee Sintenis
Mit sechs Abbildungen auf drei Tafeln 1 Von HANS SIEMS EN

Je [eltener der „bon sens“, das gefühlsmäßig ficßere Urteil, je allgemeiner die Un-
fidjerßeit in Dingen der Kunft, defto begeifterter wird in „Richtungen“ und „Ismen“
eingeteilt, in Schubfächer und Rubriken. Jeder Künftler kriegt fein Fach- Und ift
er erft rubriziert, dann macht er dem Kenner keine Schwierigkeiten mehr. Picaffo?
Das ift der Kubift! Bafta! — Rudolf Levy? Der Matiffe-Schüler, der immer Still-
leben malt. — Renee Sintenis? Das ift die Bildhauerin, die „die reizenden kleinen
Ciere“ macht. „Königin der Kleinplaftik“ -— damit ift Renee Sintenis rubriziert und
feftgenagelt. Alle Kielt kennt fie, alle Kielt weiß, daß fie „die reizenden kleinen
Ciere“ macht.
Muß gefagt werden, daß folcße Rubrizierung immer falfcß ift, daß fie (und das ift
eigentlich fchlimmer) immer nur halb und nur ganz äußerlich wahr ift? Daß fie nicht
dazu beiträgt, einen Künftler kennen zu lernen, daß fie im Gegenteil diefe Kenntnis
verhindert?
Kler in Picaffo den Kubiften fieht, kennt il;n kaum. Kler von Renee Sintenis fagt
„Das ift die, die die reizenden kleinen Ciere macht“, kennt fie nicht, kennt fie (was
fchlimmer ift) ganz falfcl).
Klein ift an diefen Kleinplaftiken nur das Format. Innerlich find fie nicht nur groß
gefeßen und groß geformt, fondern oft gerade das, was man monumental nennt. Attri-
bute wie „reizend“ und „niedlich“ geben alfo eine völlig falfdje Vorftellung. Nippfachen
find das nicht. Im Gegenteil! Klenn man fid) diefe Bronzen aus ihrem kleinen Format
in ein größeres (faft oder ganz lebensgroß) übertragen denkt — fo wird man in Europa
heute kaum irgendwo Figuren finden, die mehr in den Park, in den Garten, unter den
freien FJimmel gehörten, als diefe der Renee Sintenis.
Für die fogenannte Kunftpßege in Deutfchland ift es bezeichnend, daß bisher nur ein
einziger Mäcen dies Experiment verfudjt hat. Das lebensgroße Fohlen in Frankfurt a. M.
zeigt, wie es gelang.
In den öffentlichen Gärten Deutfchlands, auf den Plänen, in den Stadien fteht noch
nicht eine Figur von Renee Sintenis. Und wie herrÜch würde neben den üblichen
Floren, Fjeben und Brunnenmädchen zum Beifpiel ihre „Daphne“ ftehen! Klie fd)ön
müßte es fein, wenn am Eingang irgendeines Stadions einer ihrer (bisher nur radierten)
Jünglinge zu Bronze würde.
Die menfchlichen Figuren von Renee Sintenis (die „Daphne“, die „Indianerin“, die
„ßarpye“, die radierten Jungens) find merkwürdigerweife viel weniger bekannt als ihre
Ciere. Sehr zu Unrecht! Sie zeigen die gleichen Qualitäten wie ihre Ciere, die gleichen
Eigenfchaften, die gleiche Gefinnung — nur noch eindringlicher und vielleicht erftaun-
licher. Diefe Daphne, diefe Jungens find der Natur, einer heidnifchen, animalifdjen Natur
fo nahe, wie ihre Ciere. Sie find den FJunden, den Fohlen, mit denen fie fpielen, näher
verwandt als uns verdorbenen Europäern. Sie find unfd)uldig. Klie die Ciere.
Und dann ift da noch die ganze andere, vielleicht noch unbekanntere Fjälfte ihres KIerkes;
die Porträts.
Ich verzichte darauf, fie zu rubrizieren und ihnen eine Stelle im deutfchen Pantheon
anzuweifen. Auf fie hinzuweifen, auf fie — d.h- auf die „unbekannte Renee Sintenis“ —
ift der 3weck diefer 3eilen und der ihnen beigegebenen Abbildungen.
1 Die Reproduzierung der Abbildungen erfolgt mit Genehmigung der Galerie Flecptbeim.

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