Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0373
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Kühn, Herbert: Die Skulptur von Lespugue
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geftalten [ein, auch dann nicht, wenn fie einmal gebundener werden wie etwa diefe
Geftalt von Lespugue.
Diefes Gebundener-{Herden i[t aud) nie [o, daß die Realität ganz verlaßen wird,
wie bei der Kunft des Neolithikums, der Bronzezeit und der erften Eifenzeit. Wenn in
diefer 3eit eine [tarke religiöfe, myftifcße Strömung die Welt ergriffen hat, wenn hier
ganz unzweideutig Idole und Götterfiguren erfcheinen — im Paläolithikum fehlt an-
fcheinend noch die Erkenntnis einer Bildfeele im Sinne Änkermanns1, die nach dem
Code fortlebt, es fehlt auch, wie immer auf präanimiftifcher Stufe, die ausgebildete,
objektivierte Vorftellung von Göttern.
Id) glaube mid) [o zu dem Schluß berechtigt, daß die vielen Darftellungen der Frau
im Anfang der Kunft zu faßen find als fexuelle Erfcßeinung, verbunden vielleicht mit
Scheu vor der Mutter, der Bilderin des Lebens.
Nicht myftifche, magifche Gründe vermag ich in diefer Kunft zu fehen, nur ganz
Naturhaftes, Wirkliches, durch die Dinge felbft Gegebenes. Die gefd)loffenere Form
der Figur von Mentone und der von Lespugue, mag darin ihren Grund haben, daß nicht
eine Frau, nicht irgend ein Wefen getroffen wird, nicht wie in den Darftellungen der
Ciere ein beftimmtes Cier im Augenblick des Niederbrechens, im Moment des Äfens,
Eilens oder tlmblickens, nicht das Momentane, Plötzliche der immer wieder in ihrer
Wefensart beobachteten Ciere, fondern die Frau, das Weib — vielleicht die Mutter —
ein Generelles, an dem das 3ufällige verßnkt. Der Menfch ift nod) nicht individuali-
ßert als Eigenwefen, noch nicl>t ift das Pfyd)ifche, das Befondere des Antlitzes erwacht —
er ift Menfch, ein Wefen neben den Cieren. So wird es das Einheitliche fein, das der
Menfch der 3eit geftaltet, die Frau als Ganzheit, als Sinn in ßch felbft, ein Ideal der
Schönheit — die ftarke breithüftige Frau, fteatopyg — eine Form, noch heute bei vielen
Völkern als höchfte Schönheit gefd)äjzt.
1 B. Hnkermann, Cotenkult und Seelenglaube bei afrikanifchen Völkern. 3ekfd)r. f. Ethnologie.
1918, Fjeft 2 u. 3, S. 89 ff.
Saint Marcel (Frankreich).
Rifzzeicbnung. Paläolithifch.
Geftalt von Lespugue.
Diefes Gebundener-{Herden i[t aud) nie [o, daß die Realität ganz verlaßen wird,
wie bei der Kunft des Neolithikums, der Bronzezeit und der erften Eifenzeit. Wenn in
diefer 3eit eine [tarke religiöfe, myftifcße Strömung die Welt ergriffen hat, wenn hier
ganz unzweideutig Idole und Götterfiguren erfcheinen — im Paläolithikum fehlt an-
fcheinend noch die Erkenntnis einer Bildfeele im Sinne Änkermanns1, die nach dem
Code fortlebt, es fehlt auch, wie immer auf präanimiftifcher Stufe, die ausgebildete,
objektivierte Vorftellung von Göttern.
Id) glaube mid) [o zu dem Schluß berechtigt, daß die vielen Darftellungen der Frau
im Anfang der Kunft zu faßen find als fexuelle Erfcßeinung, verbunden vielleicht mit
Scheu vor der Mutter, der Bilderin des Lebens.
Nicht myftifche, magifche Gründe vermag ich in diefer Kunft zu fehen, nur ganz
Naturhaftes, Wirkliches, durch die Dinge felbft Gegebenes. Die gefd)loffenere Form
der Figur von Mentone und der von Lespugue, mag darin ihren Grund haben, daß nicht
eine Frau, nicht irgend ein Wefen getroffen wird, nicht wie in den Darftellungen der
Ciere ein beftimmtes Cier im Augenblick des Niederbrechens, im Moment des Äfens,
Eilens oder tlmblickens, nicht das Momentane, Plötzliche der immer wieder in ihrer
Wefensart beobachteten Ciere, fondern die Frau, das Weib — vielleicht die Mutter —
ein Generelles, an dem das 3ufällige verßnkt. Der Menfch ift nod) nicht individuali-
ßert als Eigenwefen, noch nicl>t ift das Pfyd)ifche, das Befondere des Antlitzes erwacht —
er ift Menfch, ein Wefen neben den Cieren. So wird es das Einheitliche fein, das der
Menfch der 3eit geftaltet, die Frau als Ganzheit, als Sinn in ßch felbft, ein Ideal der
Schönheit — die ftarke breithüftige Frau, fteatopyg — eine Form, noch heute bei vielen
Völkern als höchfte Schönheit gefd)äjzt.
1 B. Hnkermann, Cotenkult und Seelenglaube bei afrikanifchen Völkern. 3ekfd)r. f. Ethnologie.
1918, Fjeft 2 u. 3, S. 89 ff.
Saint Marcel (Frankreich).
Rifzzeicbnung. Paläolithifch.